Wieder Olympia in Deutschland: München 1972 als Vorbild?

aus Olympia 1972

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Der Münchner Olympiapark ist ein Symbol für Nachhaltigkeit: 1972 Kernstück der Olympischen Spiele, heute Eventfläche, Sportstätte und Naherholungsgebiet zugleich. Archivfoto: adobe stock

U-Bahn, Fußgängerzone, Wohnpark: München profitiert noch heute von den Spielen. Kann das Vorbild für eine Olympia-Neuauflage in Berlin sein? Eine Expertin warnt vor den Gefahren.

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MÜNCHEN/BERLIN. Mit dem Boot geht es über den See. Am Ufer erwartet die Medaillengewinner der European Championships die Siegerehrung vor bezaubernder Kulisse: saftiges Grün des Olympiabergs und die kokonartige Silhouette des Olympiastadions, dessen Schatten die wogenden Boote auf dem See verdunkeln.

Ein Anblick, der sich in 50 Jahren seit den Olympischen Spielen in München kaum verändert hat. Der Olympiapark ist historische Stätte und doch viel mehr: Sportstätte, beliebter Ausflugsort, Veranstaltungsareal und begehrte Wohnsiedlung. Kurzum: ein Symbol wahrhaftiger Nachhaltigkeit. Was alle zwei Jahre bei Sommer- und Winterspielen weltweit gepredigt wird, sich aber oft als Trugschluss erweist, ist in München Realität: Olympia-Ruinen wie in Rio de Janeiro sucht man hier vergebens. In der bayerischen Landeshauptstadt gelten die Sommerspiele 1972 als Katapult in die Moderne. Als das Event der Münchner Zeitgeschichte, das das einstmalige Riesendorf zur Weltstadt machte. Der U-Bahn-Bau wurde beschleunigt, die S-Bahn ins Umland errichtet, die Fußgängerzone ausgebaut. Und auch für das Olympische Dorf fand man etwas später eine Funktion, heute ist es eine begehrte Wohnadresse. Vor den Spielen war Münchens Norden das „Waisenkind der Stadt, wurde vernachlässigt“, weiß die Stadtentwicklungsprofessorin Ilse Helbrecht, früher an der TU München, heute Humboldt-Universität Berlin. Mittlerweile ist Münchens Norden Schmuckstück.

Dass 1,5 Millionen Einwohner heute immer noch von den Spielen profitieren, liegt daran, dass strategisch klug geplant wurde, hält die Geografin fest. Die Stadt hatte sich zwar die Austragung nicht ausgesucht, musste sich dem nationalen Willen beugen. Dennoch trafen die Macher hier auf fruchtbaren Boden. „München prosperierte stark, war der Gewinner der Nachkriegszeit“, schildert Helbrecht. Pläne, wie den Bau der U-Bahn gab es ohnehin. Olympia traf den richtigen Zeitgeist und beschleunigte die Entwicklung.

Auch Proteste gegen die Spiele gab es zwar. Aber kein Vergleich zu heute: In Deutschland überwiegt aktuell die Skepsis. Megabaustellen und Megainvestitionen sind Assoziationen, die abschrecken. Dennoch könnte Berlin den nächsten Anlauf starten. Eine Bewerbung für 2036 gibt es zwar bislang zwar nicht, unter den einigen Fürsprechern aber bereits einen sehr prominenten: IOC-Präsident Thomas Bach.

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„So ein Megaevent hat in Berlin soziale Sprengkraft“

Verkauft er Olympia als Chance der Transformation für die Hauptstadt? Samt Fahrradstraßen für die Verkehrswende? Datenautobahnen zur Digitalisierung? Grünen Dächern für die Klimawende? Großer Bedarf besteht allemal und Olympia kann da nur allzu verführerisch sein. Doch Geografin Helbrecht warnt vor solcher Rhetorik: „In London war 2012 Nachhaltigkeit ein Feigenblatt.“ Die Aufpolierung des tristen Londoner Ostens mündete in der Verdrängung von Einwohnern: das Gegenteil von sozialer Nachhaltigkeit. Ähnliches befürchtet Helbrecht für Berlin: „Die Stadt ist stark polarisiert, hat eine hohe Armutsquote. Ein Megaevent in einer solchen Situation hat soziale Sprengkraft.“ Die Hauptstadt sei überhaupt nicht mit dem München der 70er zu vergleichen. Die Zeiten und auch die Spiele haben sich stark verändert. „Die Größe, zu der sich Olympia ausgewachsen hat, macht eine nachhaltige Stadtentwicklung im Einklang mit den Bewohnern nahezu unmöglich“, sagt die Geografin. „Wir brauchen keine Sportstätten auf Weltniveau, sondern Infrastruktur für jedermann.“ Dass Events Antrieb zur Veränderung sein können, mag sie gar nicht bestreiten. Doch auf die großen Fragen dieser Zeit sei Olympia die falsche Antwort. „Das ist ein zu großer Brocken, an denen sich jede deutsche Stadt nur verschlucken kann“, sagt Helbrecht. Derzeit gebe es hierzulande keinen Standort, der profitieren würde. Selbst das mittlerweile 50 Jahre ältere München nicht.

Von Nils Salecker