Bundesliga-Skandal: Im Abstiegskampf 1971 betrügt (fast) jeder jeden
Bis zu seinem Tod 1999 hat sich Horst Gregorio Canellas nicht als Täter gesehen, sondern als Opfer. Der Präsident der Offenbacher Kickers hatte den Kronzeugen spielen wollen, als dieses Wort noch gar nicht erfunden worden war. Statt dessen handelte der Südfrüchtekaufmann mit Zitronen. Von den Fans verhasst, vom Deutschen Fußball-Bund kalt gestellt – hätte Canellas nicht am 6. Juni 1971 vor laufender Kamera ein Tonband abgespielt, wäre ihm wohl Vieles erspart geblieben.
Skandaltor: Gerd Roggensack (Mitte, Bielefeld) schießt gegen Torwart Dieter Burdenski (re.) und Jürgen Michael Galbierz (beide Schalke) nach vorheriger Absprache in einem verkauften Spiel das entscheidende 0:1. Archivfoto: imago
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Von Ulrich Gerecke
Bis zu seinem Tod 1999 hat sich Horst Gregorio Canellas nicht als Täter gesehen, sondern als Opfer. Der Präsident der Offenbacher Kickers hatte den Kronzeugen spielen wollen, als dieses Wort noch gar nicht erfunden worden war. Statt dessen handelte der Südfrüchtekaufmann mit Zitronen. Von den Fans verhasst. vom Deutschen Fußball-Bund kalt gestellt – hätte Canellas nicht am 6. Juni 1971 vor laufender Kamera ein Tonband abgespielt, wäre ihm wohl Vieles erspart geblieben.
An diesem folgenschweren Sonntag feierte der Boss des am Vortag abgestiegenen OFC seinen 50. Geburtstag. Bundestrainer Helmut Schön war unter den Gästen der Gartenparty, zwischen Häppchen und Sekt wurde gescherzt und gefachsimpelt. Bis Canellas auf den Knopf drückte. Was die krächzenden Stimmen auf dem Tonband von sich gaben, erschütterte Fußball-Deutschland. Zu hören war Canellas im Gespräch mit Nationalspieler Bernd Patzke, es ging um viel Geld, 140.000 Mark. Diese Summe wollte der Kickers-Präsident an Patzke und seine Kollegen bei Hertha BSC überweisen, wenn die ihr letztes Saisonspiel gegen Offenbachs Abstiegskonkurrenten Arminia Bielefeld gewännen.
Doch Canellas hatte die Rechnung ohne die Arminia gemacht. Die nämlich bot den Berlinern 250000 Mark – und zwar fürs absichtliche Verlieren! Ob die Berliner dem Lockruf der Mark folgten oder nicht (wie manche hinterher behaupteten) – den Geldkoffer nahmen sie nach der 0:1-Heimniederlage am letzten Spieltag jedenfalls gern. Die Arminia feierte derweil den Klassenverbleib und die eigene Dreistigkeit. Schließlich hatte der Verein schon am 17. April mit vergleichsweise läppischen 40.000 Euro den 1:0-Sieg auf Schalke erkauft.
Die halbe Liga am Abgrund
Heraus kam das alles später, und es war nur die Spitze eines Eisbergs. Die Welle, die das Canellas-Tonband lostrat, riss die halbe Liga in den Abgrund: 52 Spieler, zwei Trainer und sechs Funktionäre wurden zum Teil lebenslänglich gesperrt, darunter auch der Kickers-Chef selbst. Zehn Vereine waren verwickelt, Arminia Bielefeld wurde zum Zwangsabstieg verurteilt, auch Offenbach bekam die Lizenz entzogen. 15 Hertha-Spieler, 16 von Eintracht Braunschweig waren betroffen, auch Profis vom VfB Stuttgart, MSV Duisburg, Rot-Weiß Oberhausen und vom 1. FC Köln mischten bei dem schmierigen Geschäft mit. Mindestens acht Spiele wurden nachweislich verschoben.
DFB-Chefankläger Hans Kindermann verkündete im Sommer 1973 zwar: „Wir haben zu hundert Prozent aufgeklärt.“ Doch zu Ende war der Skandal damit noch nicht. Viele waren überzeugt, dass wegen der bevorstehenden Heim-Weltmeisterschaft 1974 schmutzige Details unter den Teppich gekehrt wurden. Bis 1977 beschäftigte der Skandal sogar ordentliche Gerichte. Zahlreiche Spieler vom FC Schalke 04, der eigentlich bisher nur eine Nebenrolle gespielt hatte, bestritten unter Eid die Annahme von Bestechungsgeldern. Erst als sogar Haftstrafen drohten, knickten Reinhard Libuda, Klaus Fichtel, Klaus Fischer & Co. ein – kräftig zahlen mussten sie trotzdem.
Rund 1,1 Million Mark wurden in dem Skandal bewegt, in Geldkoffern, auf Autobahnraststätten und in zwielichtigen Kneipen-Hinterzimmern. Der Image-Schaden für die Bundesliga und den noch jungen Profifußball war jedoch viel größer: In den folgenden Spielzeiten stürzten die Zuschauerzahlen um 800.000 bzw. 1,3 Millionen ab. Das Vertrauen der Fans war erst einmal verspielt.