Für den USC über die Latte geflogen: Guido Kratschmer zeigt im Jahr 1980 bei einem Wettkampf sein Können im Hochsprung. Foto: imago
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ZORNHEIM - Der Gedanke an die dunkelste Stunde seiner Karriere quält Guido Kratschmer mittlerweile nicht mehr. Auch die Frage darüber, was hätte sein können, spielt längst keine übergeordnete Rolle mehr. „Es hat 20 Jahre gedauert, um das zu verarbeiten. Immer, wenn ich darauf angesprochen wurde, sind die ganzen bösen Erinnerungen wieder hochgekommen. Aber jetzt ist es abgeklungen“, sagt Kratschmer. 1980 saß er im Auto und war auf dem Weg zum Mehrkampf-Meeting in Götzis, als er im Radio vom deutschen Olympia-Boykott für die anstehenden Sommerspiele in Moskau hörte. Vorbei war Kratschmers Traum vom Gold.
„Das war ein Tiefschlag. Ich habe lange daran zu knabbern gehabt. Ich war total darauf fixiert, in Moskau Gold zu holen“, sagt der heute 64-Jährige, der in seiner glanzvollen sportlichen Karriere zu den weltbesten Zehnkämpfern gehörte und für den USC Mainz startete. Wäre der Boykott des damaligen Nationalen Olympischen Komitees aufgrund des Einmarsches sowjetischer Truppen in Afghanistan nicht dazwischen gekommen – Kratschmer könnte sich heute wohl Olympiasieger nennen. Der enorm kraftvolle Athlet stand 1980 im Zenit seines Könnens und galt als hoher Favorit für Moskau. „Ich war unglaublich sauer und enttäuscht, dass das NOK für den Boykott gestimmt hatte. Da wurde auch großer politischer Druck ausgeübt“, blickt Guido Kratschmer zurück.
All der Schmerz von damals ist nun aber weit weg. Beim Blick in seinen idyllischen Garten im rheinhessischen Zornheim atmet das frühere USC-Aushängeschild tief durch. Das Wasser im Teich plätschert leise vor sich hin, die Sonne taucht die Terrasse in helles Licht. Längst haben andere Dinge im Leben des sechsfachen deutschen Zehnkampf-Meisters eine Bedeutung bekommen. Kratschmer genießt seine Ruhe auf dem Land, treibt nach wie vor Sport, fährt Rad, läuft, macht Krafttraining und spielt gerne Tennis. Lange Spaziergänge mit Hündin Manou, einem Husky, geben ihm Kraft und Entschleunigung. „Ich fühle mich sehr wohl hier draußen. Der schöne Blick über die Felder nach Rheinhessen und bis nach Frankfurt ist toll“, schwärmt der frühere Zehnkampf-Weltrekordler.
Für den USC über die Latte geflogen: Guido Kratschmer zeigt im Jahr 1980 bei einem Wettkampf sein Können im Hochsprung. Foto: imago Foto: imago
Zuhause in seinem Garten in Zornheim fühlt sich Guido Kratschmer besonders wohl. Dort liebt der 64-Jährige die Ruhe. Foto: Riechert Foto: Riechert
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Kurz nach dem Boykottbeschluss stellte Kratschmer, der auch ein exzellenter Hürdensprinter war, im Sommer 1980 in Bernhausen einen Fabelrekord auf und erzielte gigantische 8649 Punkte. „Ich hatte so lange darauf hingearbeitet und stand plötzlich vor dem Nichts. Da blieb mir als einziges Ziel der Weltrekord. Er war eine kleine Genugtuung und Entschädigung für mich“, sagt Guido Kratschmer.
Den Werdegang von Niklas Kaul im Blick
Der gelernte Landwirt, der vom Klotzenhof bei Großheubach in Unterfranken stammt und später Lehrer wurde, hat in seiner sportlichen Vita eine Zehnkampf-Silbermedaille bei den Olympischen Sommerspielen 1976 in Montreal stehen. Hinzu kommt Bronze bei der Leichtathletik-Europameisterschaft 1974 in Rom. Sogar über die 110 Meter Hürden heimste er mehrere nationale Titel ein. Auch wenn ihm der ganz große Coup und Olympia-Gold versagt blieb, ist Kratschmer stolz auf das Erreichte. „Ich hatte das Glück im Leben, mich durch den Sport verwirklichen zu können. Ich bin immer meinen Weg gegangen – und Niederlagen gehören zum Leben dazu. Man wächst dadurch“, sagt der 64-Jährige.
DIE SERIE
Ob Ringen, Handball, Rudern oder Fußball: In Mainz und Umgebung wurden auch in der Vergangenheit bereits sportliche Erfolge gefeiert.
Dabei haben sich Sportler hervorgetan, die den Menschen bis heute in Erinnerung geblieben sind.
Diese Sportler werden in loser Folge in der Serie „Kennen Sie noch?“ vorgestellt.
Seine Liebe und Leidenschaft für den Zehnkampf ist bis zum heutigen Tag geblieben. Zu den aktuellen deutschen Spitzenathleten hat Guido Kratschmer Kontakt, noch immer besucht er Wettkämpfe, noch immer verfolgt er das Geschehen in der internationalen und nationalen Leichtathletik. Natürlich hat er auch den Werdegang von USC-Toptalent Niklas Kaul im Blick, dem amtierenden Junioren-Weltmeister. „Er bringt alle Attribute mit, die einen Zehnkämpfer auszeichnen. Niklas ist ehrgeizig, bescheiden, tritt für die Mannschaft ein und lässt sich nie hängen“, lobt Kratschmer den Nachwuchsathleten, der sich anschickt, in seine Fußstapfen zu treten.
Dem USC Mainz ist Guido Kratschmer nach wie vor verbunden. „Das ist mein Verein, ich bin dort groß geworden. Wenn sie mich brauchen, bin ich da“, sagt der einstige Leistungssportler, der nach der Grundausbildung in Kassel zur Mainzer Sportfördergruppe der Bundeswehr gelangte. Von dort war der Weg zum USC und zur Universität nicht mehr weit. „Es gab da ideale Trainingsbedingungen. Zudem war Mainz eine Mehrkampf-Hochburg. Wir haben uns im Training gegenseitig hochgepusht, das war schon sensationell gut“, schwärmt Kratschmer noch heute.
Ein Riss der Achillessehne im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul beendete seine Karriere. Mit zu Olympia durfte der Zehnkämpfer trotzdem. Das deutsche NOK hatte ihn für die Spiele in Südkorea einfach als Weitspringer nominiert – trotz Verletzung. „Das war damals eine Geste des NOK, als kleiner Ausgleich für den Olympiaboykott acht Jahre zuvor“, erinnert sich Guido Kratschmer. In Seoul durfte er im Olympischen Dorf wohnen und konnte sich fernab vom Leistungsdruck alle Wettkämpfe in Ruhe ansehen. Unter anderem Tennis mit Steffi Graf und Fußball mit Jürgen Klinsmann. „Das war traumhaft, ich habe es total genossen“, lächelt der Zornheimer.
Guido Kratschmer ist mit sich und seinem Leben im Reinen. Er blickt dankbar auf eine spektakuläre Laufbahn zurück, ist viel gereist, hat die Welt gesehen und ruht in sich. Der frühere Aktivensprecher des Deutschen Leichtathletik-Verbandes sagt: „Ich bin wirklich rundum zufrieden“. Wer kann das schon von sich behaupten?