Reisen im Kopf

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Millionen Menschen bleiben zu Hause. Vielleicht führt das dazu, dass sich das Urlaubsglück künftig viel intensiver erleben lässt. Die Vorfreude darauf ist jedenfalls nicht...

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. Dies ist die Stunde sonst eher still vor sich hin forschender Gelehrter: Virologen versuchen, komplexe infektologische Zusammenhänge zu erklären, Mathematiker erläutern das Wesen exponentieller Funktionen, Soziologen ordnen ein, was unfassbar scheint. Selbst eine Philosophin hat plötzlich regelmäßige Fernsehauftritte. Das Genie ist wieder gefragt, wenn das Selbstverständliche mit einem Mal in Frage gestellt ist, wenn niemand weiß, wie es in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten weitergehen wird.

Blaise Pascal (1623 - 1662) war ein solches Universalgenie: Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph. Ihm wird ein geradezu unerhörtes Diktum zugeschrieben. „Alles Unheil dieser Welt geht davon aus, dass die Menschen nicht still in ihrer Kammer sitzen können“, soll Pascal gesagt haben. Ein Satz, der bis vor Kurzem allenfalls anekdotisch zitiert worden war. Ein Beispiel schrulliger Denkart einer längst überholten Epoche als man noch mit der Postkutsche reiste und ohnehin nicht weit kam.

Als es noch keine Shoppingtrips nach Dubai gab, noch keine Wochenendreisen in sogenannt quirlige Metropolen, keine turmhohen Schwerölschleudern, die zum Spaß auf den Weltmeeren kreuzen, keinen Skizirkus auf noch so fernen Berggipfeln, keinen Flug zum Marathon am anderen Ende der Welt. Keinen Massentourismus, kein All inclusive und erst recht keinen „Overtourism“. Als es noch kein schneller, höher, weiter gab – als sei das ganze Leben eine einzige Challenge.

Reisefreiheit ist aufgehoben, die Denkfreiheit nicht

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Jetzt müssen Millionen von Menschen plötzlich zu Hause bleiben. Ja, es handelt sich um eine Art von Freiheitsberaubung. Die Reisefreiheit ist aufgehoben, die Amüsierfreiheit ist weitgehend gestrichen. Die Party ist vorerst ausgesetzt. Die Denkfreiheit aber nicht. Wer auf die „stille Kammer“, also die eigene Wohnung verwiesen ist, hat plötzlich Zeit, sich Gedanken zu machen. Was wäre, wenn Reisen per se nicht mehr zu den erstrebenswertesten Beschäftigungen gehören würde? Wenn es stattdessen die eigene Wohnung, die, in unserem Land doch überwiegend heile kleine komfortable Welt, zu sichten und neu zu entdecken gelten würde? Die die seit Jahren nicht angerührten Bücher in den Regalen, die vielen schon lange nicht mehr getragenen Kleider in den überfüllten Schränken, die unzähligen Fotos all der vielen Urlaube vieler Jahre…

Die Inventur der eigenen kleinen und großen Besitztümer birgt die Chance, auf neue Ideen zu kommen. Es gibt Schlimmeres, als vorübergehend auf die private Umgebung verwiesen zu sein. Es ist nur eine maßvolle Entrechtung im Vergleich zu wirklich großen Katastrophen wie Krieg, Flucht oder Folter. Wozu die viele Zeit zum Denken anstoßen könnte? Vielleicht genügten wenige, aber längere und damit intensiver erlebte Reisen, um glücklich zu sein. Vielleicht ließe sich dadurch auf ganz neue Weise wertschätzen, was an Wahrem, Schönen und Guten allein in unserer unmittelbaren Umgebung zu entdecken wäre, wenn die Krise überstanden ist: Die Museen in unserer Stadt. Die Ausflugsziele in der unmittelbaren Umgebung. Die Parks, Gärten, Kneipen, Kinos in der Nachbarschaft. Und vor allem die Menschen, die man gleich um die Ecke – und nicht Tausende von Flugkilometern entfernt treffen könnte. Auch in Zeiten anschwellender Infektionszahlen kann man mit ihnen in Kontakt bleiben. Niemand ist eine unerreichbare Insel. Das Telefon funktioniert. Die sozialen Netzwerke sind in Betrieb. Und seit Jahren war die Luft über Chinas Megastädten nicht mehr so gut wie jetzt. In Italien musizieren Menschen für andere von ihren Balkonen aus. In Deutschland hängen Schilder an Bäumen und Zäunen, die Nachbarschaftshilfe anbieten.

„Wenn man mich fragt, warum ich reise, antworte ich: Ich weiß wohl, wovor ich fliehe, aber nicht, wonach ich suche“, soll Michel de Montaigne (1533-1592) einmal gesagt haben. Auch er gehörte zu den Universalgelehrten Europas, war Jurist, Humanist, Philosoph, Skeptiker und Begründer der Essayistik.

Reisen ist etwas Wunderschönes. Vor allem, wenn es nicht allein der Zerstreuung, sondern der Begegnung dient. Wenn es nicht die Flucht vor dem Innehalten bedeutet. Vielleicht lässt sich das Glück des Reisens zukünftig viel intensiver erleben, wenn es endlich wieder erlaubt sein wird, sich auf den Weg zu machen. Die Vorfreude darauf ist nicht verboten. Erst recht nicht das Nachdenken darüber, wie das Reisen in Zeiten einer bevorstehenden Klimakatastrophe aussehen könnte.

Jetzt aber ist allenfalls das Reisen im Kopf angesagt. Und die Entdeckung der stillen Kammer samt ihrer geheimen Schätze. Das Blättern in alten Fotoalben etwa, als der Urlaub noch Sommerfrische hieß, auf die man sich monatelang im Voraus freute.

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Draußen ist es Frühling. Die Sonne scheint auch auf dem Balkon oder im geöffneten Fenster. Und das Kopfkino hat geöffnet. Die Vorstellung kann jederzeit beginnen.

Von Claudia Diemar