Mit Kunst gegen soziale Probleme: Philadelphias Mural Arts...

Mehr als 3700 Murals sind seit der Gründung des Mural Arts Programms in Philadelphia entstanden. Foto: Bryan Lathrop  Foto: Bryan Lathrop
© Foto: Bryan Lathrop

Phyl Francis sieht nicht so aus, wie man sich Menschen vorstellt, die hauptberuflich mit Street Art zu tun haben. Sie trägt Hut statt Dreadlocks, dezenten roten Lippenstift...

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. Phyl Francis sieht nicht so aus, wie man sich Menschen vorstellt, die hauptberuflich mit Street Art zu tun haben. Sie trägt Hut statt Dreadlocks, dezenten roten Lippenstift statt Tattoo und feine Riemensandalen statt Turnschuhen. Sie ist eine zierliche Dame und man würde sie eher in einem Museum vermuten als auf einer Street Art-Tour. Doch zu genau dieser treffe ich sie am Independence Park, von wo aus wir zu Fuß durch die Innenstadt laufen.

Mehr als 3700 Murals sind seit der Gründung des Mural Arts Programms in Philadelphia entstanden. Foto: Bryan Lathrop  Foto: Bryan Lathrop
Philadelphias Murals sind häufig an den Wänden von Parkplätzen oder Hinterhöfen zu finden. Foto: Anna Tillmann  Foto: Anna Tillmann
Die Independence Hall ist eines der bekanntesten Gebäude der USA. Foto: Anna Tillmann  Foto: Anna Tillmann
Die Love-Skulptur von Robert Indiana gibt Philadelphias „Love Park“ seinen Namen. Foto: Anna Tillmann  Foto: Anna Tillmann

Street Art hat für Philadelphia eine besondere Bedeutung. Kunst ist in der Stadt, die als die geistige Wiege der USA gilt, allgegenwärtig. Kürzlich wurde sie als erste Stadt der USA überhaupt zur Weltkulturerbestadt ernannt. Natürlich gibt es hier Museen – unzählige. Aber man muss gar nicht ins Museum gehen, um Kunst zu erleben. Man muss nur durch die Stadt laufen und bekommt Kunst auf dem Präsentierteller geliefert. Da steht ein Bronzeguss von Auguste Rodins „Denker“ auf dem Benjamin Franklin Parkway und den Brunnen an der John F. Kennedy-Plaza – auch Love Park genannt – ziert der berühmte rote Love-Schriftzug von Robert Indiana. Mehr als 700 Skulpturen stehen in den Straßen Philadelphias.

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Und dazu gibt es in Philly, wie die Einwohner ihre Stadt liebevoll nennen, eben auch unzählige Murals – Wandgemälde, die die einst graue Arbeiterstadt lebendig und bunt wirken lassen. Mehr als 3700 dieser großformatigen Kunstwerke sind in den vergangenen 30 Jahren an den Fassaden von Hinterhöfen, Parkplätzen und verlassenen Industriegebäuden entstanden. „The World’s Largest Outdoor Art Gallery“ nennen sie das Gesamtbild hier stolz – die größte Open-Air-Kunstgalerie der Welt.

Verantwortlich für die Wandgemälde ist das Mural Arts-Programm, für das auch Phyl Francis arbeitet. Es ist eine städtische Initiative, die in Zusammenarbeit mit bekannten Künstlern und ganz normalen Anwohnern leblosen Wänden Farbe gibt. Es ist ein Programm, das aus einer Anti-Graffiti-Initiative hervorgegangen ist und eigentlich Sozialarbeit leistet. „Kunst kann dir das Leben retten, das ist die Idee“, erklärt Phyl.

Wer verstehen will, wieso man in Philadelphia mit legaler Wandkunst gegen illegales Sprayen kämpft, muss einen Blick in die Stadtgeschichte werfen.

In den 80er-Jahren befindet sich Philadelphia wie viele andere amerikanische Großstädte in einer Krise. Die Reagan-Regierung hat die USA mit niedrigen Zinsen in die Rezession gestürzt. 1982 sind zehn Prozent der Amerikaner arbeitslos. Besonders hart trifft es Afroamerikaner und Hispanics in den Städten – auch weil an Sozialhilfeprogrammen zuvorderst gespart wird.

In Philadelphia herrschen Armut und Wohnungsnot und die Stadt hat ein schwerwiegendes Graffiti-Problem. Bürgermeister W. Wilson Goode gründet das Anti-Graffiti-Network, aus dem später das Mural Arts-Programm hervorgehen wird. Junge Sprayer sollen hier auf die richtige Bahn gelenkt werden. Das Programm ist eine Präventionsinitiative für Problembezirke.

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„Graffiti werden immer dann an Häuserwände und Straßenecken geschmiert, wenn sich eine Gesellschaft in einer Krise befindet. In Gegenden, wo junge Menschen arbeitslos sind und keine Perspektive sehen, werden die Wände häufiger verschmutzt als anderswo“, erläutert Phyl. Das Mural Arts Programm will Menschen erreichen, die sozial benachteiligt sind und ihnen eine Aufgabe geben: Sie sollen ihre Nachbarschaft verschönern, etwas erschaffen, auf das sie stolz sein können.

Ist das Mural Arts-Programm also eine Art gesellschaftliche Kunsttherapie? Phyl freut sich über diese Frage, sie hat ihre Antwort sofort parat: „Ja, und sie funktioniert. Wir haben hier unglaubliche Dinge erlebt. Die Leute ticken anders, wenn sie einmal bei uns gearbeitet haben.“

Neben 36 festangestellten Mitarbeitern und unzähligen freiwilligen Helfern werden jährlich rund 100 wegen Vandalismus verurteilte Sprayer von der Stadt engagiert und bezahlt, um bei der Planung und Durchführung von Mural-Projekten zu helfen. Die Rückfallquote bei jugendlichen Straftätern, die einmal im Mural Arts-Programm gearbeitet haben, liegt bei 20 Prozent. Das ist ein Riesenerfolg. In anderen Programmen, sagt Phyl, liege die Quote nämlich bei bis zu 70 Prozent.

Woher kommt der Erfolg? Auch darauf hat Phyl eine Antwort: „Sprayer sind künstlerisch hoch talentiert. Gib ihnen einen Pinsel statt einer Spraydose und sie wissen genau, wie sie ihn einsetzen müssen“, sagt sie. „Wer etwas so großartiges und großes schafft, entwickelt ein Verhältnis zu seinem Gemälde, seinem Zuhause und zu seiner Stadt.“ Das, so Phyl, wirke sich positiv auf die Gesellschaft aus.

Philadelphias Murals sind eine Erfolgsgeschichte. Rund um den Globus versuchen Städte, die Initiative zu kopieren. Die Wandgemälde erfreuen indes nicht nur die Bewohner, sondern auch die Touristen. Auf Touren werden die Gemälde für Besucher erlebbar.

Wer eine solche Tour bucht, sieht nicht nur die Stadt Philadelphia mit anderen Augen, sondern erfährt viel über die amerikanische Geschichte und Kultur. In den Bildern geht es um das Streben nach Gleichberechtigung, das Zusammenleben von Weißen und Schwarzen, um Homosexualität, Religion und um die lange und spannende Geschichte der Stadt, in der die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet und die Verfassung ausgearbeitet wurde.

Auf unserem Weg durch die Stadt bleibt Phyl stehen, um die Bedeutung eines Gemäldes zu erklären. „A People’s Progression Toward Equality“ – ein Volk und sein Weg zur Gleichberechtigung – zeigt ein Haus im Querschnitt, in dem sich auf mehreren Etagen Menschen befinden. Treppen verbinden die Stockwerke. Alle arbeiten gemeinsam an einer Statue von Abraham Lincoln. Im Keller steht das Gerüst, Sklaven hantieren mit Werkzeug: Szenen aus den Anfängen Amerikas. Weiter oben Szenen aus dem Bürgerkrieg: Afroamerikaner und Weiße arbeiten gemeinsam an der halbfertigen Statue – allerdings von verschiedenen Seiten. Im obersten Geschoss widmen sie sich gemeinsam der Feinarbeit an der fertigen Statue des 16. amerikanischen Präsidenten, der sich Zeit seines Lebens gegen die Sklaverei aussprach. Und doch suggeriert eine weitere Leiter durch ein geöffnetes Dachfenster, dass da noch etwas kommen könnte. „Unsere Gesellschaft ist auf einem guten Weg, aber wir sind noch nicht am Ziel“, bemerkt Phyl.

Die meisten Murals entstehen nicht direkt an der Wand, sondern im Atelier. Jedes dieser Kunstwerke ist ein überdimensioniertes Malen nach Zahlen auf Leinwand. Beauftragt wird es bei Künstlern, aber gestaltet wird gemeinsam. Stück für Stück wird der spezielle, fertig bemalte Untergrund dann am Ende auf der Mauer aufgebracht. Acht bis zwölf Monate dauert das. Und wenn ein Gemälde fertig ist, ist Philadelphia wieder um ein Kunstwerk reicher.

Von Anna Tillmann