Freitag,
13.05.2016 - 00:00
5 min
Deutsche Aussteiger vermieten Ferienwohnungen auf den Azoren

Von Christine Bausch
Reporterin Rheinhessen

Der Ponta do Pico ist Portugals höchster Gipfel. Foto: Zicha-Pietrasik ( Foto: Zicha-Pietrasik)
Der Traum, er liegt mitten im Atlantik. Auf dem 38. Breitengrad, 1 500 Kilometer westlich des portugiesischen Festlandes, gut 4 000 Kilometer östlich von New York. Auf den Azoren: „Diese Insel ist das Paradies“, sagt Silke Piotrowski. „Pico hat uns emotional gefesselt und nicht mehr losgelassen.“ Vor fünf Jahren, mit Anfang vierzig und Mitte dreißig, haben sie und ihr Ehemann Tobias Wittmann Deutschland hinter sich gelassen. Die Jobs gekündigt, die Wohnung aufgelöst, die Familie schonend vorbereitet auf den großen Schritt. Auf einem traumhaft gelegenen Hanggrundstück oberhalb von Prainha do Norte, zwischen alten Obstbäumen, mit Blick auf das Meer leben die Bruchsalerin und der Augsburger ihren Traum. In vier Ferienhäusern des „Refugio do Pico“ lassen sie ihre Gäste daran teilhaben.
Der Pico, das ist der Gipfel. Buchstäblich: Pico ist das portugiesische Wort für Gipfel. Mit ihren 2 531 Metern ist Portugals höchste Erhebung eine Diva: Sie scheut zuweilen das Sonnenlicht, hüllt sich in Wolken und Nebel ein. Umso größer sind die Glücksmomente, wenn sich der Berg in seiner ganzen Schönheit zeigt. Für Silke Piotrowski und Tobias Wittmann sind es Augenblicke wie diese auf der Terrasse ihres „Refugio do Pico“ hoch über dem glitzernden Wasser, ein Glas Wein, Maisbrot aus dem Holzbackofen und ein Stück Pico-Käse auf dem Tisch. Momente, die ihnen zeigen, dass die Entscheidung richtig war: die klare Nacht, in der so viele Sternschnuppen fallen, dass ihnen die Wünsche ausgehen. Die Begegnung mit riesigen Finn- und Blauwalen, die im Frühjahr auf ihrem Weg nach Norden Rast in der „Snackbar“ Azoren halten. Die sommerliche Bootstour, bei der sie mitten im Atlantik, auf halbem Weg zwischen Sao Jorge und Pico, für ein Bad ins spiegelglatte Meer springen. Eine Fahrt entlang der Küste zu den malerischen Grotten und Höhlen, die man vom Land aus gar nicht sieht. Oder eine Wanderung auf den Pico hinauf, eine Mountainbike-Tour durchs Gebirge.
Als Auswanderer sehen sich Silke und Tobias nicht. Eher als Aussteiger. Beide kommen ursprünglich aus der IT-Branche. Als die Internetblase platzte, verloren beide fast gleichzeitig ihren Job. Die Suche nach Arbeit, das Gefühl, nie sesshaft zu werden – die Unzufriedenheit stieg. „Es waren viele kleine Momente, die in der Summe zu dieser Entscheidung geführt haben“, blickt Silke Piotrowski zurück . „Es musste doch mehr geben als arbeiten, essen und schlafen.“ Die beiden teilen das Faible für kleine Inseln. Auf den Azoren landete das Paar erstmals 2002. Fast zufällig, nach einem Blick auf die Landkarte. „Schon beim ersten Aufenthalt auf Sao Miguel war uns klar: Wir kommen wieder“, sagt Silke Piotrowski. Beim zweiten Azoren-Urlaub 2004, diesmal auf der zweitgrößten Insel Pico, wurde die Idee, hier zu leben, geboren. „Das hat uns nicht mehr losgelassen.“ Als sie zwei Jahre später erneut auf Pico landeten, hatten beide das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Sie überlegten, wie sie hier ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. Sprachen mit deutschen Auswanderern, kalkulierten sechs Jahre lang anhand von Excel-Tabellen, testeten im Februar den azorianischen Winter, lebten praktisch in zwei Welten. Dann kam 2010, das Jahr der Entscheidung. Das Paar wagte den Schritt, kündigte Job und Wohnung, gab vieles, was vorher teuer erworben worden war, für kleines Geld zum Flohmarkt. Im September unterschrieben sie den Kaufvertrag für das Grundstück, auf dem bis Sommer 2012 ihr neues Haus und die ersten beiden Ferienhäuser stehen sollten.
Doch bis dahin war es ein steiniger Weg. Der begann im April 2011. Wegen des geringen Wasserdrucks gab es Probleme, das Grundstück an das öffentliche Wassernetz anzuschließen. Der erste Bauunternehmer verkalkulierte sich, wollte 20 Prozent mehr. Der zweite ging pleite. Im Oktober 2011 standen von allen drei Gebäuden nur Außenmauern und Stützwände. Es war die Zeit der Krise in Portugal, das Vertrauen in den Geldfluss schwand. „Das war einer der Momente, in denen wir dachten, uns würde der Boden unter den Füßen weggezogen“, erzählen die beiden, „wir hatten kein Geld, um alles zweimal zu zahlen.“ Im Februar fand sich der dritte Unternehmer – er hatte bis Juni Zeit, um die drei Häuser fertigzubauen. Für Ende Juni hatten die ersten Gäste gebucht. Gebaut wurde mit ökologisch nachhaltigen Materialien, Holz und Natursteinen von der Insel. „Klare Linien, kein Schnickschnack“, sagt Tobias Wittmann, „die Umgebung sollte zur Geltung kommen.“ Die alten Bäume – Feigen, Khakis, Orangen, Zitronen – blieben dank waghalsiger Rettungsaktionen vor der riesigen Baggerschaufel stehen.
INFORMATION
Wale: Bis in die 80er-Jahre war der Walfang die wichtigste Einnahmequelle auf Pico. Der Franzose Serge Viallelle ist ein Pionier des Whale Watching auf den Azoren. Seit 1989 befährt er den Atlantik, um das Leben der Riesensäuger zu erforschen – sein Unternehmen bietet auch Touren an: www.espacotalassa.com.
Wein: Auf Pico gedeiht der beste Wein der Azoren. Im 19. Jahrhundert wurde er sogar an den Zarenhof in Sankt Petersburg geliefert. Angebaut wird er zwischen Mauern aus wärmenden Lavasteinen – eine Methode, die 2004 als Unseco-Weltkulturerbe anerkannt wurde.
Tipps: für eine Reise auf die Azoren finden sich unter www.visitazores.com/de. Eine Inselrundfahrt auf Pico ist in einem Tag zu schaffen. Für eine Besteigung des Pico sollte man jedoch einen längeren Aufenthalt einplanen, um einen wolkenfreien Tag zu erwischen.
Ferienhäuser „Refugio do Pico“: www.refugio-do-pico.com.
Wein: Auf Pico gedeiht der beste Wein der Azoren. Im 19. Jahrhundert wurde er sogar an den Zarenhof in Sankt Petersburg geliefert. Angebaut wird er zwischen Mauern aus wärmenden Lavasteinen – eine Methode, die 2004 als Unseco-Weltkulturerbe anerkannt wurde.
Tipps: für eine Reise auf die Azoren finden sich unter www.visitazores.com/de. Eine Inselrundfahrt auf Pico ist in einem Tag zu schaffen. Für eine Besteigung des Pico sollte man jedoch einen längeren Aufenthalt einplanen, um einen wolkenfreien Tag zu erwischen.
Ferienhäuser „Refugio do Pico“: www.refugio-do-pico.com.
Die ersten Gäste hatten auf der Nachbarinsel Sao Jorge die Unterkunft wechseln müssen, waren entsprechend kritisch. Am Ende der Urlaubswoche auf Pico fuhren sie mit einem Lächeln ab. Nach Saisonende wurden die beiden fehlenden Häuser gebaut, nach dem nachträglichen Anschluss ans Wassernetz Ende 2013 endlich die Zufahrt befestigt. „Für die Gäste war es immer perfekt, für uns zwischendrin die Hölle“, sagen die beiden. 2014 wurden erstmals alle vier Häuser die komplette Saison über vermietet, erst 2015 kehrte so etwas wie Routine ein. Das Ergebnis finden Wittmann und Piotrowski noch schöner als in ihren Träumen. „Wir wollten so bauen, wie wir selbst gerne wohnen möchten“, erklärt die Bruchsalerin, die mit ihrem Mann ein Faible für Design teilt. „Die Ferienhäuser sind schöner als unser eigenes Haus.“ Die haben alles, was das Paar in anderen Unterkünften vermisste: vom Kamin bis hin zu Bettflasche und Eierpikser. Es war nicht klar, ob das Konzept aufgehen würde, doch die immer wiederkehrenden Aha-Erlebnisse der Gäste, das „Endlich!“ derer, die im „Refugio do Pico“ etwas Einzigartiges fanden, bestätigte die beiden Deutschen auf ihrem Weg. Viele Gäste kommen wieder, „das ist die schönste Auszeichnung für unsere Arbeit“, strahlt Tobias Wittmann.
In diesem Jahr wollen sie sich wieder etwas zurücknehmen und nach dem Bau-Stress wieder mehr Lebensqualität zwischen Zimmerreinigung und Gartenpflege bringen. Die Arbeit ist nicht leichter, nicht weniger geworden, doch der Alltag ist ein völlig anderer als früher: „Das Ziel war ja, unser Leben zu verändern“, sagen die beiden. „Die Energie, die uns das Projekt gekostet hat, hat uns die Insel zurückgegeben.“ Zuhause? Das sind inzwischen die Azoren. „In Deutschland haben wir bald wieder Heimweh nach Pico!“
Die Faszination bleibt. Für die Menschen, die Landschaft. Die Azoren sind die Wetterküche Europas. Die berühmten Hochs bleiben meist nicht lange. Dazwischen lassen sich spektakuläre Wolkenformationen beobachten, der Regen, der von ferne kommt und wieder geht, gleich darauf strahlender Sonnenschein. Der den Blick freigibt auf den majestätischen Gipfel, den Pico.