Hering: Homosexuelle wurden nach 1945 wieder zu Opfern
Am 27. Januar trifft sich der rheinland-pfälzische Landtag zu einer Sondersitzung in der KZ-Gedenkstätte Osthofen. Im Zentrum steht die Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit.
Hendrik Hering, Landtagspräsident
(Archivfoto: Kaster)
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MAINZ/OSTHOFEN - Der rheinland-pfälzische Landtag trifft sich an diesem Montag (10 Uhr) zum dritten Mal nach 1998 und 2013 aus Anlass des bundesweiten Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus in der KZ-Gedenkstätte Osthofen zu einer Gedenksitzung. Im Mittelpunkt steht ein Vortrag über die Verfolgung Homosexueller während des Dritten Reiches. Im Interview erklärt Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD) die Bedeutung des Themas und der Gedenkarbeit.
Herr Hering, jedes Jahr stellt der Landtag am 27. Januar eine Opfergruppe des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt. Wieso haben Sie sich diesmal entschieden, das Schicksal homosexueller Menschen zu beleuchten?
Man kann dies im Kontext einer sich verändernden Erinnerungskultur erklären. Bald werden keine Zeitzeugen der Jahre 1933 bis 1945 leben und berichten können. Deshalb müssen wir die Erinnerung aufrechterhalten und zu neuen Formen entwickeln. Dabei sollten wir die Verdrängungsprozesse nach 1945 in den Fokus nehmen. Hiervon waren homosexuelle Menschen besonders betroffen.
Hendrik Hering, Landtagspräsident Archivfoto: Kaster
In Osthofen war eines der ersten Konzentrationslager im Dritten Reich. In der heutigen Gedenkstätte trifft sich der Landtag am Montag zu einer Sondersitzung. Archivfoto: Photoagenten/Ben Pakalski
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Wie sah diese Kontinuität nach dem Dritten Reich aus?
Es ist absolut erschreckend, wie nahtlos die Stigmatisierung Homosexueller nach 1945 weiterging. Es hat zwar immer wieder Bestrebungen gegeben, den betreffenden Paragrafen 175 aus dem Strafgesetzbuch zu tilgen, aber das geschah endgültig erst 1994. Der von den Nazis verschärfte Paragraf galt unverändert bis 1969. Im Dritten Reich wurden auf dieser Basis in Deutschland 50 000 Menschen verurteilt, nach 1945 waren es noch einmal genauso viele. Diese Menschen sind nach dem Krieg wieder zu Opfern geworden.
Wie war so etwas möglich?
Da spielt Verdrängung aus dem öffentlichen Bewusstsein eine große Rolle. Studien belegen, dass über die Hälfte der Bevölkerung glaubt, ihre eigenen Vorfahren seien im Widerstand gewesen. Da müssen wir in Zukunft verstärkt ansetzen. Wir müssen solche Verdrängungsmechanismen erkennen und aufdecken. Zugleich ist es wichtig, die Schicksale der Opfer auf die lokale Ebene herunterzubrechen, damit sie für alle nachvollziehbar werden.
ANTRAG
In einem gemeinsamen Antrag fordert die Ampelkoalition die Landesregierung auf, die Forschungs- und Erinnerungsarbeit zur Zeit des Nationalsozialismus fortzusetzen und sich weiter für die vollständige rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Homosexuellen einzusetzen.
Die Gedenksitzung des Landtages ist nur ein Teil eines ganzen Paketes von Initiativen.
Auf Initiative und Beschluss des Landtags hin hat die Regierung die Verfolgung Homosexueller in Rheinland-Pfalz in einer Studie erforschen lassen. Michael Schwartz, der in Osthofen den Vortrag hält, ist einer der Studienleiter. Die Wanderausstellung „Verschweigen – Verurteilen“ des Familienministeriums ist bis 7. Februar im Landtagsfoyer zu sehen. Dazu gibt es viele weitere Veranstaltungen zum 75. Jahrestag des Kriegsendes. Und unsere Gedenkarbeit ist ganz eng mit Demokratiebildung verknüpft.
Rheinland-Pfalz ist auf diesem Gebiet schon sehr lang aktiv. Würden Sie sich im Bundesvergleich als Vorreiter betrachten?
Ich denke schon: Wir haben eine Führungsrolle, so intensiv wie wir widmet sich kein anderes Land diesem Thema. Wir führen als einziges Bundesland am 9. November einen landesweiten Schulbesuchstag der Abgeordneten durch. Und wir haben in der Landtagspräsidentenkonferenz die Federführung für Erinnerungsarbeit übernommen.
Regelmäßige Gedenkveranstaltungen wie die Landtagssitzung am 27. Januar bergen aber auch die Gefahr, sich im Ritual zu verlieren. Haben Sie die Sorge, dass das Gedenken an die NS-Zeit an Wirkung verliert?
Gerade jetzt müssen wir mehr machen, nur eben in anderer Form. Wir müssen die Leute wachrütteln, sie berühren, ihnen vermitteln, wie es zum Aufstieg des Nationalsozialismus kommen konnte. Ich glaube, dass viele Menschen, die lange dachten, rechtsradikale Parteien würden in Deutschland nie mehr eine Rolle spielen, für die Problematik wieder zunehmend sensibilisiert werden. Jetzt sind sie da, das treibt mich schon um.
Mit der AfD sitzt eine Fraktion im Landtag, die immer wieder in den Verdacht gerät, rechtsradikales Gedankengut zu pflegen und zu verbreiten. Erreichen Sie diese Abgeordneten mit einer Veranstaltung wie jetzt in Osthofen?
Die AfD hat bisher immer geschlossen an der Veranstaltung teilgenommen. Allerdings ohne sich von den menschenverachtenden Äußerungen einzelner prominenter AfD-Politiker auf Bundesebene zum Dritten Reich, zum Holocaust und zur Erinnerungskultur klar zu distanzieren.