Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat Impfnebenwirkungen lange verharmlost. Nun hat er seine Haltung geändert – und stößt weiterhin auf Kritik.
BERLIN. Immer wieder hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Corona-Impfungen als nebenwirkungsfrei bezeichnet. Im Februar hatte er in der ARD-Sendung „Anne Will“ zudem gesagt, dass die Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, „Desinformation in den sozialen Medien“ zum Opfer gefallen seien.
„Jedes Medikament hat eine Nebenwirkung“, kritisierte der Virologe Klaus Stöhr nun die Aussagen Lauterbachs bei Bild-TV. Man habe hier etwas Falsches suggeriert. „Wenn ich den Menschen sage, das ist nebenwirkungsfrei, dann sage ich damit natürlich, suggeriere ich damit, da kann auch nichts passieren“, ergänzte die Mainzer Rechtsanwältin Jessica Hamed in der Sendung. Dies habe auf der anderen Seite dazu geführt, dass das Thema tabuisiert wurde. Jeder, der Bedenken angemeldet hat, sei nicht ernst genommen worden.
"Nicht unter den Teppich kehren"
Umso überraschender ist die Kehrtwende, die der Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Woche gemacht hat: In sehr seltenen Fällen können nach der Corona-Impfung auch entsprechende Nebenwirkungen vorkommen, erklärt Lauterbach in einem Video des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), das in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde. Lauterbach spricht darin erstmals auch vom sogenannten Post-Vac-Syndrom und betont, dass dies ernst genommen werden müsse. „Das wird untersucht, das kann man nicht unter den Teppich kehren“, kündigte er an.
„Als Post-Vac-Syndrom bezeichnet man ein Syndrom, wo sich nach der Impfung die Menschen nicht so gut konzentrieren können wie vorher oder wo Nebenwirkungen vorkommen“, erläuterte der Minister. Es sei aber nicht mit der Schwere der Erkrankung von Post-Covid vergleichbar. In der ARD-Sendung „Maischberger“ bezeichnete er es als eine sehr seltene Komplikation, die aber viel weniger dramatisch sei, als wenn man Long-Covid entwickelt. Allerdings wird diese Einschätzungen von Experten angezweifelt.
So kritisierte der Marburger Kardiologe Bernhard Schieffer: „Leider decken sich ihre Äußerungen zu Schweregrad von Post-Vac, der geringer als Long-Covid sein soll, nicht mit unseren klinischen Erfahrungen. Ich würde empfehlen solche Äußerungen zurückhaltend zu tätigen, da Betroffene jedweder Erkrankungsentität vor den Kopf gestoßen werden“, kommentierte er das auf Twitter veröffentlichte Video des Bundesgesundheitsministeriums. Um die Ursache für das Post-Vac-Syndrom zu erforschen, hat der Direktor der Klinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Marburg bereits Ende letzten Jahres eine Studie gestartet. Zudem bietet er mit seinem Team eine Spezialsprechstunde für Betroffene an (https://www.ukgm.de/ugm_2/deu/umr_kar/51186.html). Daher weiß er, dass die Beschwerden komplex sind. Betroffen seien allein in Deutschland mindestens 20.000 Menschen.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen werden in Deutschland vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gesammelt und bewertet. Es habe in der Geschichte der Menschheit noch nie Impfungen gegeben, bei denen die Impfwirkungen aber auch die Impfnebenwirkungen genauer erfasst und dokumentiert wurden als bei den Messenger-RNA-Impfungen gegen Covid, sagte Lauterbach bei „Maischberger“.
Laut dem aktuellen Sicherheitsbericht zu den Covid-Impfstoffen wurden dem PEI bis zum 31. März knapp 300.000 Verdachtsfälle auf eine mögliche Nebenwirkung gemeldet, bei mehr als 172 Millionen Impfungen. Und tatsächlich liegt die Melderate für schwerwiegende Reaktionen nur bei 0,2 Meldungen pro 1000 Impfstoffdosen, das sind umgerechnet 0,02 Prozent.
Das Problem: Manche der Beschwerden sind sehr diffus. Sie werden beispielsweise als Nebel im Kopf beschrieben, als Stromschläge oder starke Nervenschmerzen in den Gliedmaßen. Ärzte können den kausalen Zusammenhang zur Impfung oft nicht feststellen. Das PEI definiert Nebenwirkungen als schwerwiegend, wenn sie tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung erforderlich machen oder zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung oder Invalidität führen.
Dass die Diagnose schwierig zu sein scheint, bestätigt auch der Kardiologe Schieffer. Er vermutet dennoch, dass zumindest bei einem Teil der Patienten etwas durch die Impfung ausgelöst wurde: Bestimmte Viren, die ansonsten im Körper schlummern, scheinen reaktiviert zu werden – Gürtelrose, Ringelröteln und das Epstein-Barr-Virus. Auch Autoimmunreaktionen könnten für die Symptome verantwortlich sein. Sie werden ebenso als Ursache für Long-Covid diskutiert. Man könne das nur herausfinden, wenn die Beschwerden systematisch erhoben würden, sagte Schieffer gegenüber dem „Spiegel“.
Untererfassung von Daten?
Das Paul-Ehrlich-Institut kann allerdings nur mit den Daten arbeiten, die ihm auch gemeldet werden – entweder von den behandelnden Ärzten oder den Patienten. Und es gibt auch Stimmen, die eine Untererfassung der Daten vermuten. Seine Erfahrungen zeigten, dass Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung von Kollegen häufig nicht ernst genommen würden, sagt beispielsweise der Berliner Arzt Erich Freisleben im „Focus“.
Auch interessant: Corona "noch lange nicht vorbei": Ausblick auf den Herbst
Christian Mardin, Leitender Oberarzt der Universitätsaugenklinik Erlangen, sieht noch ein anderes Problem bei der Erfassung: Weil die Beschwerden in den Meldebögen vordefiniert sind, könnten sich Patienten mit einem möglichen Post-Vaccination-Syndrom in den Meldebögen vielleicht nicht wiederfinden, so der Mediziner, der ebenfalls zu Long-Covid und Impfnebenwirkungen forscht.
Tatsächlich können Betroffene in dem Online-Formular des PEI aus einer Reihe von Beschwerden, wie Fieber, Kopfschmerzen, Schmerzen an der Injektionsstelle und Ermüdung auswählen. Andere Beschwerden als die aufgeführten, können in einem gesonderten Feld selbst eintragen werden. Und das ist laut Mardin, das Problem, denn weil bis zu 100 verschiedene Symptome beschrieben werden, würde dies im Freitext vielleicht kein Muster ergeben.