Freitag,
08.12.2017 - 00:00
4 min
Interview: In Deutschland ist mittlerweile jedes fünfte Kind von Armut bedroht – Experte fordert Umdenken

Eine junge Familie am Strand: Immer mehr junge Menschen wünschen sich Kinder. Doch gleichzeitig steigt die Zahl der Familien und Kinder, die von Armut bedroht sind. Foto: dpa ( Foto: dpa)
BERLIN - Wer sich eine große Familie wünscht, steht schnell vor der Frage, ob er sie sich überhaupt leisten kann. „Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass in Deutschland drei Millionen Familien in Armut leben müssen“, sagt Siegfried Stresing, Vizepräsident des deutschen Familienverbands. Er ist von der Entwicklung beunruhigt: Aus dem von der Bundesregierung vorgelegten Familienreport geht hervor, dass jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht ist – das sind rund 2,8 Millionen und somit 1,5 Prozent mehr als noch 2010.
Herr Stresing, wie stehen Sie zum Familienreport der Bundesregierung?
Der Familienreport 2017 wirft ein besorgniserregendes Bild auf die Situation von Familien und der Familienpolitik. Positiv ist, dass junge Menschen sich Kinder wünschen – und immer mehr wünschen sich sogar drei und mehr Kinder. Dem steht allerdings die dramatische finanzielle Benachteiligung von Alleinerziehenden und Mehrkindfamilien gegenüber. Familien, die sich Zeit für das Kind statt für Erwerbstätigkeit nehmen, wird immer mehr Unterstützung entzogen, wie beispielsweise das gekippte Bundesbetreuungsgeld.
Ab wie vielen Kindern bekommen die meisten finanzielle Probleme?
Das erste Kind bringt zwar die größte Veränderung im Leben, diese können aber meist mit den vorhandenen Ressourcen gemeistert werden. Beim Zweiten wird dann schon die Wohnung zu klein und die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit schwerer. Spätestens beim dritten Kind wird die Vereinbarkeit meist unmöglich.
Widerspricht sich die Situation nicht mit der Aufforderung, wir sollen mehr Kinder bekommen, um den demografischen Wandel auszugleichen?
Nun, aus ökonomischer Sicht wäre es günstiger, wenn Kinder im Ausland geboren werden und erst nach Deutschland kommen, wenn sie einen Job annehmen können. Da liegt definitiv ein Denkfehler seitens der Regierung vor, da mit dem Kindermangel der Anteil der älteren Bevölkerung immer weiter steigt. Unsere Generation wird Deutschland als Schwellenland und das Ende des Sozialstaats nicht mehr erleben – aber den Weg dorthin immer mehr spüren.
Wie erklären Sie sich den Widerspruch?
Über den demografischen Wandel wird seit Jahrzehnten diskutiert. Zunehmend wird er als Chance betrachtet, wenn wir nur die Familie den Anforderungen der Wirtschaft anpassen. Kindererziehung steigert, in den herkömmlichen Denkweisen, nicht das Bruttosozialprodukt. Die Betreuung, Bildung und Erziehung sind nach dieser Denkschule unproduktiv und verhindern produktive Erwerbsarbeit.
ZUR PERSON
Siegfried Stresing ist seit Mai 2017 Vizepräsident des deutschen Familienverbands in Berlin.
Zuvor war der Sozialarbeiter und Betriebswirt zehn Jahre lang der Bundesgeschäftsführer.
Von 1989 bis 2007 war Siegfried Stresing Geschäftsführer des Landesfamilienrates Baden-Württemberg.
Zuvor war der Sozialarbeiter und Betriebswirt zehn Jahre lang der Bundesgeschäftsführer.
Von 1989 bis 2007 war Siegfried Stresing Geschäftsführer des Landesfamilienrates Baden-Württemberg.
Wie kann die Politik helfen?
Familienpolitik hat nicht zu helfen, sondern sie hat zu akzeptieren. Sie hat Entscheidungen der Familien zu respektieren und die Bedingungen für diese Wahlfreiheit zu schaffen.
Hat die Politik zu wenig Interesse an Großfamilien?
Ihre Bedeutung für den demografischen Wandel wurde noch immer nicht erkannt. Stattdessen schauen alle auf die zunehmende Kinderlosigkeit und versuchen, mehr junge Menschen für ein einzelnes Kind zu begeistern – aber bitte die richtigen. Das Elterngeld wurde lohnabhängig gestaltet, um mehr Akademikerinnen die Entscheidung für ein Leben mit Kind zu erleichtern.
Welchen Hürden begegnen die Familien neben dem Finanziellen?
Auf der einen Seite stehen Familien, die ihr Kind in dessen ersten drei Lebensjahren durch ein Elternteil selbst betreuen. Sie sind dem Vorwurf ausgesetzt, ihr Kind von Bildung fernzuhalten. Auf der anderen Seite stehen Eltern, die frühzeitig – in Teilzeit – wieder erwerbstätig sein wollen oder müssen – und deshalb ihre Kinder in Betreuung geben –, im Verdacht, ihren Kindern schwere Hirnschäden zuzufügen. Beide Behauptungen sind unerträglich.
Glauben Sie, die Situation wird sich in Zukunft verbessern?
Nicht, solange Migrantenfamilien, Alleinerziehende und Ehepaare gegeneinander ausgespielt werden, das Heimchen am Herd gegen die Rabenmutter kämpft und Lebensentwürfe mit Kindern am Finanziellen scheitern. Denn dann ist die Öffentlichkeit vollauf mit den Grabenkämpfen beschäftigt und die Politik kann sich auf die Interessen der Wirtschaft konzentrieren und Familienpolitik daran ausrichten – statt umgekehrt.
Was fordern Sie konkret als Verband?
Wir fordern ein einheitliches Kindergeld, das in seiner Höhe der maximalen steuerlichen Wirkung des Kinderfreibetrages entspricht. Damit würde ernst gemacht mit dem Anspruch, dass der staatlichen Gemeinschaft jedes Kind gleich viel wert ist. Bislang wird bei Kindern von Spitzenverdienern zusätzlich zum monatlichen Kindergeld am Ende des Jahres ein Kinderfreibetrag berücksichtigt, der zu einer weiteren Steuerentlastung führt. Wir möchten auch, dass in der gesetzlichen Sozialversicherung endlich Kinderfreibeträge eingeführt werden – dafür klagen wir zurzeit. Wer, aus welchem Grund auch immer, nicht das Existenzminimum seiner Familie selbst erwirtschaften kann, bedarf der Unterstützung der Gemeinschaft. Das ist keine Familienpolitik – sondern Sozialpolitik.
Das Interview führte Sonja Ingerl.