Gastkommentar von Necla Kelek: Wenn die Familie ein Gefängnis ist
Zwangsehen, Kinderehen, Polygamie - in Deutschland wird viel zu oft weggeschaut.
Von Necla Kelek
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Die Familie ist in allen Gesellschaften im Kern "heilig". Unsere Verfassung schützt Ehe und Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes als Urzelle der Gesellschaft in besonderem Maße und vertraut das Wohl der Kinder der Familie an, übergibt den Eltern das Recht auf die Erziehung. Es ist eine Art normativer Vertrauensvorschuss der Gesellschaft an die Familie, gegeben in der Erwartung, dass den Mitgliedern die Grundrechte gewährt werden, besonders den Kindern. Es geht um eine werteorientierende Sozialisation im Sinne einer emanzipierten, im besten Fall eines auf Freiheit, Verantwortung, Selbstständigkeit und Zukunftsfähigkeit ausgerichteten Zusammenlebens.
Können Familien dies aus bestimmten Gründen nicht leisten, sprechen wir von dysfunktionalen Familien, denen staatlicherseits über Jugendämter etc. Hilfe und Unterstützung gewährt wird. Was ist aber, wenn diese Auffassung von Familie nicht geteilt wird? Wenn Grundrechte, Fürsorge fehlen und Frauen und Kindern aus religiösen und traditionellen Gründen Freiheit, Gleichberechtigung und Entwicklungsmöglichkeiten vorenthalten werden? Wenn nach einem archaischen Weltbild gelebt wird und die Männer über Frauen und Kinder herrschen, Cousin und Cousine verheiratet werden? Lässt man dies zu oder greift man ein?
Mein Eindruck ist: In Deutschland wird, was diese Zustände vor allem in traditionell muslimisch-orientalischen Familien betrifft, Wegschauen als Toleranz definiert. Polygamie oder Verwandtenehen werden übersehen, man lobt lieber den Zusammenhalt auch von Großfamilien, ohne zu bemerken, dass diese Familien oft ein Gefängnis sind und Frauen und Kinder Gefangene von "Vaters Staat", einem religiös legitimierten Patriarchat. Man spricht nicht von existentiellen Problemen, sondern lieber von Vielfalt, kultureller Diversität. Aber: Die Hälfte der Frauen, die in Deutschland wegen häuslicher Gewalt Zuflucht in Frauenhäusern suchen, kommen haben vorwiegend muslimischen Migrationshintergrund. Es können jeden Tag junge Frauen und Männer, auch Kinder zwangsweise verheiratet werden. Es gibt zwar ein Gesetz gegen Zwangsheirat, aber weder das Familienministerium, noch die Justiz erfassen, ob das Gesetz eingehalten wird. Die letzten offiziellen Zahlen zu Zwangsheiraten sind aus dem Jahr 2008, eine Umfrage des Arbeitskreises gegen Zwangsheirat ergab für Berlin im Jahr 2018 allein 570 Fälle.
UNSERE GASTAUTORIN
Necla Kelek ist preisgekrönte Publizistin, Soziologin und Menschenrechtlerin. Foto: Kelek
Das gleiche Bild bei Kinderehen. Der Bundestag beschließt 2017 ein Gesetz gegen Ehen unter 18 Jahren, aber nichts geschieht. Weder die Integrationsbeauftragte noch eine Universität, sondern die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hat aktuell dazu eine Umfrage gemacht. 813 Fälle von Frühverheiratung wurden ihr gemeldet, und in nur zehn Fällen wurde die Ehe aufgehoben. Offensichtlich warten Familienministerin und Jugendämter mit Maßnahmen, bis die jungen Frauen volljährig werden und sich das Problem von selbst erledigt.
Anzumerken ist auch, dass die staatlicherseits hochalimentierte universitäre Migrationsforschung diese Themen ausblendet. Auch hier: keine empirischen Untersuchungen zu Zwangs-, Kinder, oder Verwandtenehe, keine Analysen, keine Warnungen, kein Schutz. Innerhalb der muslimischen Community das gleiche Bild. Es gibt keine Infragestellung von Vaters Staat, sondern das Patriarchat wird als "gottgegeben" hingenommen. Dabei wäre ein Diskurs über die Familienstrukturen der "unheiligen" orientalischen Familie und den Grundrechten der Frauen und Kinder dringend angeraten. Aber wer dies anmahnt, gerät schnell in den Verdacht des "Kulturrassismus".
Unsere Verfassung akzeptiert keine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die staatlichen Institutionen haben dafür zu sorgen, dass die Gesetze durchgesetzt und Grundrechte wahrgenommen werden können. Tun sie dies nicht, versagen sie. Auch jede junge muslimische Frau muss ihre Grundrechte leben können, denn an den Rechten der Schwachen misst sich die Demokratie.