„Was haben Sie von Grass gelernt?" Schriftsteller Andreas Martin Widmann im Interview
Im Gespräch verrät Andreas Martin Widmann, wie das Spiel „Führerbunker“ aus seinem neuen Roman „Messias“ funktioniert und wie man ein erfolgreicher Autor wird.
Von Constantin Lummitsch
Editor Desk VRM zentral
Autor Andreas Martin Widmann.
(Foto: Simone Schröder)
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MAINZ - Herr Widmann, schreiben Sie am Laptop oder am Doppel-Monitor?
Am Laptop. Ich habe einen Acer, 15 Zoll. Ich mache damit gerade die Steuer. Damals in der Agentur hatte ich einen I-Mac…
Sie haben in der Werbung gearbeitet.
Ja, von 2011 bis Sommer 2012 als Texter in einer Frankfurter Werbeagentur, erst fest angestellt, dann frei.
Ihr schlimmstes Erlebnis?
Ich will das gar nicht dämonisieren, die Arbeit als Texter kann Spaß machen. Das Schwierige in diesem Geschäft ist die Arbeit am Limit. Der Riesendruck dort wird oft künstlich erzeugt. Manchmal sitzt man von 9 bis 17 Uhr nur rum und schaut Youtube-Videos. Dann fällt einem Kunden plötzlich eine neue Idee ein, die bis morgen umgesetzt werden muss. Dann werden alle panisch und arbeiten bis spät in die Nacht.
Aufputschmittel?
Nein, bei uns war nur Kaffee im Umlauf. Die Geschichten um Kokain kann ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen. Oder ich habs nicht abbekommen.
Ist das Kapitel Werbung abgeschlossen?
ZUR PERSON
Andreas Martin Widmann wurde 1979 in Mainz-Kastel geboren. Studium in Mainz, Dissertation über kontrafaktische Geschichtsdarstellung im postmodernen Roman. Dazu untersuchte er Prosa von Thomas Brussig, Günter Grass oder Thomas Pynchon. Widmann lebt in Berlin und unterrichtet dort Literatur am Bard College.
Widmanns Texte wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis. Der Roman „Messias“ ist gerade bei Rowohlt erschienen.
Im Moment praktiziere ich nicht. Aber das ist wie bei einem trockenen Alkoholiker…
Notizbuch oder Smartphone?
Notizbuch. Ich nutze erst seit Kurzem ein Smartphone, weil mein altes 2009er-Klapphandy gestorben ist. Ich schreibe in ein blankes DIN A 5 Notizbuch.
Das diszipliniert Ihre Schrift.
Diese These ist nicht haltbar. Meine Schrift ist schwierig zu entziffern, zum Leidwesen meiner Studenten. Falls meine Notizbücher je in Marbach liegen sollten, wird die Nachwelt was zu rätseln haben. Manchmal kann ich meine eigene Schrift nicht entziffern. Angefangen hat das Notieren in der Abizeit. 20 Notizbücher sind mittlerweile voll.
Sie wurden unter anderem über Thomas Brussig und Günter Grass promoviert. Welchen der beiden Schriftsteller bevorzugen Sie?
Ich finde das schwierig, Thomas Brussig lebt ja noch. Muss ich? Dann sag ich mal Grass. Im vergangenen Jahr habe ich das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste erhalten, dazu durfte ich im Haus von Grass wohnen, in Wewelsfleht. Somit hat er mir von jenseits des Grabes noch etwas Gutes getan. Deshalb fühle ich mich Grass verpflichtet.
Was haben Sie von Grass gelernt?
Den Mut, erzählerisch immer neu anzusetzen, statt bei einer Gewinnerformel zu bleiben. Seine ersten Sätze beeindrucken mich. Es gibt keinen Autor, von dem ich mehr erste Sätze behalten habe.
Lassen Sie hören.
„Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt...“, aus der Blechtrommel. Oder: „…und einmal, als Mahlke schon schwimmen konnte, lagen wir neben dem Schlagballfeld im Gras.“ Aus Katz und Maus. „Ilsebill salzte nach“, aus dem Butt, ist ja gar nicht so doll, aber bleibt im Gedächtnis, und Unkenrufe beginnt mit: „Der Zufall stellt den Witwer neben die Witwe.“ Die Bücher haben alle einen starken Einstieg.
Wo unterrichten Sie gerade Literatur?
Am Bard College in Berlin, der Hauptsitz ist an der Ostküste der USA. Die Studenten kommen aus aller Welt. Ich bin in Mainz-Kastel geboren, bis 2008 habe ich in Mainz studiert und wurde promoviert. Meine Familie lebt hier. Danach arbeitete ich in London an einer Uni. Seit 2016 wohne und arbeite ich in Berlin.
Mainz oder Berlin?
Derzeit Berlin. Ich möchte nicht ausschließen, mal nach Mainz zurückzukehren.
Leidet das Schreiben unter dem Uni-Job?
Nein, der Austausch mit den jungen Leuten bereichert mich. Die ausländischen Studierenden gehen mit der deutschen Sprache sehr locker um. Dabei entstehen Wortschöpfungen, auf die ich als Muttersprachler gar nicht käme. „Papiervogelwald“ ist ein Wort, das ich mir notierte. Oder „der Lautstärker“. Oder „der Sternhalter“. Als ihre Heizung kaputt war, rief eine Studentin die „Gasschaft“ an. Großartig! Das alles ist ein angenehmes Gegengewicht zum Alleinsein des Schreibens.
Wollen Studentinnen Sie benutzen, um an Ihre Kontakte in der Literaturbranche zu kommen?
Ne. Aber ich habe schon mal Empfehlungsschreiben verfasst, für ehemalige Studenten.
Spielen Empfehlungsschreiben in der Literaturbranche eine sehr große Rolle?
Ja, das ist absolut so. Nur Massenmörder werden ohne Hilfe berühmt, schrieb Nathan Hill.
Der Weg vom Manuskript zum Verlag führt über solche Türöffner.
Wer hat Sie empfohlen?
Ich wurde nicht empfohlen. Bei mir ging es über die Vorkostung der Förderpreise und Stipendien. Da hatte ich Glück, ein paar zu bekommen.
Sie haben viele Preise abgeräumt. Doch bei Ihrem ersten Preis, dem Förderpreis von Hessen und Thüringen im Jahr 2005, haben Sie einen hinteren Platz belegt und kein Geld erhalten. Waren Sie damals frustriert?
Naja, ich wollte damals lieber das Geld gewinnen. Aber ich durfte mit den Hauptpreisträgern bei dem Schreibseminar teilnehmen. In Gera. In diesem Seminar habe ich meine jetzige Frau kennengelernt. Deshalb ist dieser Preis mein wichtigster. Zwei Monate später wurden wir ein Paar. Zeitnah, wie man heute sagt.
Welche Rollen spielen Preise?
Manche tragen zum Lebensunterhalt bei, andere, wie der Deutsche Buchpreis, sind vor allem Marketinginstrumente. Im Nachwuchsbereich können sie wichtige Kontakte ermöglichen, da werden einem dann manchmal Kärtchen zugesteckt.
Wer hat Ihnen eine Visitenkarte zugesteckt?
Meine heutige Lektorin beim Rowohlt-Verlag, das war im Jahr 2008.
Sie haben es ohne Agent geschafft? Geht das heute auch noch?
Scheint so. Ich habe immer noch keinen Agenten. Manche Kollegen verlassen auch wieder Agenturen und sind trotzdem erfolgreich.
Werden Literaturagenten überschätzt?
Wenn junge Autoren von Agenturen nur Absagen erhalten, sollten die das nicht zu ernst nehmen. Ich hatte früher auch Absagen von Agenturen bekommen. Da geht es sehr um Verkäuflichkeit, nicht nur um literarische Qualitäten. Bloß nicht wegen einer Absage die Segel streichen!
Wie funktioniert das Spiel Führerbunker?
Das ist eine Erfindung. In meinem neuen Roman Messias besuchen zwei Werbeleute ihre Kunden. Als Ventil für das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Kunden stellen sie sich ihre Auftraggeber als Nazis vor. Die Werber fragen sich: Wie hätten die sich im Dritten Reich verhalten? Was für Ränge hätten die bekleidet? Zur Auswahl stehen Blockwart, Obersturmbannführer, Gauleiter…, aber das ist ein Spiel der literarischen Figuren. Ich spiele das natürlich nicht.
Sie sind ein erfolgreicher Autor. Aber wie schützen Sie sich vor Altersarmut?
Ich bin da wahrscheinlich unzureichend geschützt. Ich mache mir da fortwährend Gedanken, auch Kollegen reden viel über dieses Thema. Jeder Autor hofft halt, dass es am Ende doch nicht so schlimm kommen wird, schließlich leben wir in einer Wohlstandsgesellschaft. Irgendwie wird das mal gutgehen, hoffen viele. Aber zumindest bin ich ja noch nicht alt. An meiner Uni sind Studenten aus Syrien, die zwei Jahre in der Türkei feststeckten. Wenn ich mir vorstelle, dass ich sie frage: Wie schützt ihr euch denn eigentlich vor Altersarmut? – dann relativiert das etwas die Perspektive. Vielleicht ist das Sorgenmachen auch etwas typisch Deutsches, German Angst…