Sex ist heutzutage nur einen Mausklick entfernt, doch das Verlangen schwindet. Die Expertin erklärt, warum.
. Die Paar- und Sexualtherapeutin Heike Melzer untersucht die Folgen des digital beschleunigten Sex im 21. Jahrhundert. Internetpornos und Cybersex haben für Liebe, Beziehungen und Partnerschaften erhebliche Folgen.
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Frau Melzer, der Begriff „sexuelle Revolution“ kam Mitte der sechziger Jahre auf, als Studierende und nackte Kommunarden gegen die spießige Sexualmoral ihrer Eltern protestierten. Ihr Buch behandelt Sexualität in der Cyber-Ära und trägt den Untertitel „Die neue sexuelle Revolution“. Erleben wir wirklich eine solche? Ja – unter anderen Vorzeichen. Ende der sechziger Jahre ging es um Freiheit: Durch die Pille wurde der Sex entkoppelt von der Fortpflanzung und dem Damoklesschwert einer unfreiwilligen Schwangerschaft. Kinder waren planbar, Sexualität frei und unbeschwert genießbar. Die Slogans lauteten: „Mein Bauch gehört mir“, „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ und „Make love, not war“. Ein weiterer Mosaikstein war der Kampf für den straffreien Schwangerschaftsabbruch, der Paragraf 218 wurde 1976 reformiert.
Und die heutigen Vorzeichen?
Nun werden die Triebe von der Beziehung und dem Partner abgekoppelt, von der Liebe abgespaltet. Der technische Fortschritt hat auch die Sexualität enorm beschleunigt. Die Reizintensität und Vielzahl an sexuellen Verlockungen, die Möglichkeiten, sich alternativ zum Partner Lust zu verschaffen, explodierten besonders im vergangenen Jahrzehnt. 3-D-Pornos der verrücktesten Kategorien, Ganzkörperanzüge für virtuellen 4-D-Sex, Sexroboter, ausgeklügelte Sexspielzeuge .... Ich kann in Timbuktu sitzen und mit jemandem am Nordpol Sex haben. Millionen Portale und Apps bieten unverbindliche und käufliche sexuelle Angebote, die sich bequem von der heimischen Komfortzone aus anbahnen lassen.
Was ist die Konsequenz?
Die Anzahl der Orgasmen ohne Partner, oder zumindest ohne verbindlichen, haben rasant zugenommen. Das Abendprogramm mancher Paare? Er sitzt im Arbeitszimmer und besucht Sex- und Pornoseiten im Netz, sie verwöhnt sich zeitsynchron im Schlafzimmer mit einem Sex-Toy, dessen Leistung immer intensiver wird. Das zieht sich durch alle Schichten.
Sie beschreiben den australischen Prachtkäfer: Die Käfermännchen kopulieren sich oft auf weggeworfenen Bierflaschen zu Tode – dank Schlüsselreizen in überdimensionierter Form. Eine Analogie zum Cybersex?
Unsere Lust und unsere Triebe sind längst Zielscheiben einer milliardenschweren Sexindustrie! Sexuelle Superreize wie Pornografie, Hightech-Sex-Toys und Casual-Sex-Partner werben um unsere Aufmerksamkeit. Der sexuelle Verkehr auf Highspeed-Datenbahnen sorgt für eine zunehmende „Verkehrsberuhigung“ in Partnerschaften. Lustlosigkeit ist eines der Hauptthemen in meiner Praxis für Paar- und Sexualtherapie. Doch sind wir wirklich so „overworked and underfucked“, wie wir immer vorgeben? Mein Eindruck: Viele sind eher „oversexed“ – daher ein wenig „underworked“. Es handelt sich dabei um keine generelle Lustlosigkeit, sondern um eine partnerbezogene, oft durch Arbeitseifer und Müdigkeit getarnt. Der Slogan „Make love, not war“ wandelt sich heute in ein „Make sex, not love“.
Werden Partner irgendwann reizlos?
Der sogenannte Coolidge-Effekt beschreibt den sexuellen Überdruck und nachlassende sexuelle Reaktionen bei ein und demselben Sexualpartner. Dummerweise trifft dies nicht nur auf Tiere, sondern auch auf uns Menschen zu. Da kommen die neuen digitalen Verführungen der Sex- und Cyberindustrie gerade recht: Sie zielen diametral auf das Belohnungszentrum unseres Gehirns. Da wird Dopamin ausgeschüttet. Der Effekt ist ähnlich wie Kokain.
Wie in den ersten Monaten einer Beziehung?
Ja – ein echtes Dilemma. Die drei Dimensionen von Sex sind Fortpflanzung, Liebe und Triebe. Wir sehnen uns nach Liebe, Verbindung und Sicherheit. Gleichzeitig zieht es uns in Richtung des prickelnden Hormoncocktails aus Aufregung, Abenteuer und Leidenschaft. Doch Liebe braucht Nähe, aber Erotik braucht Abstand. Im Beziehungsalltag ist da kaum Platz. Die Krux: Die allgegenwärtige Sexualität verändert unsere sexuellen Fantasien, unser Wollen und Können – die Messlatte liegt hoch.
Was bedeutet das gesellschaftlich? Vier Themenfelder sind mir in den vergangenen zehn Jahren aufgefallen! Da gibt es alte Funktionsstörungen im neuen Gewand – junge Männer, bei denen zu Pornos alles geht, aber mit der Partnerin nichts. War früher der vorzeitige Samenerguss ein Problem, ist es heute die Orgasmusverzögerung. Und waren früher die Frauen lustlos, sind es nun die Männer. In Sachen Quantität geht die Schere immer weiter auseinander zwischen Unberührten, die nur virtuellen Sex kennen, und jenen, die sich so durch die Betten tindern, bis sie über 100 Partner in kurzer Zeit haben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat längst „zwanghaftes Sexualverhalten“ als psychische Störung anerkannt. Allein in Deutschland gibt es, nach konservativen Schätzungen, eine halbe Million Porno- und Sexsüchtige; hinzukommen indirekt betroffene Partner und Familienmitglieder.
Und was sind Punkt drei und vier?
Qualität! Was früher Hardcore war, ist heute Blümchensex. Außergewöhnliche sexuelle Praktiken wie BDSM, Fetischismus, Exhibitionismus und Voyeurismus sind längst Kulturgut – mitten in der Bevölkerung angekommen. Der Begriff der Treue ist unklarer als je zuvor. Ich kann mit anderen Sex haben und trotzdem treu sein, alles eine Frage der Verhandlung! Wir können mit dem eigenen Partner im Bett liegen und ihn gleichzeitig am Smartphone betrügen. Treue vollzieht einen Perspektivwechsel, in dem ich mir selber treuer bin als meinem Partner. Das Internet hat die Triebe von der Leine gelassen. Die Kollateralschäden bei Sexsucht sind – wie bei jeder Sucht – enorm: Finanzen, Gesundheit, Beziehungen und Familien stehen auf dem Spiel, das geht bis zum Gesetzesbruch.
Wie entkommt man dem Teufelskreis?
Zwischen Sexgourmets und Sexaholics gibt es feine Unterschiede. Wir können viele Dinge aus der Ernährung, die wir schon kennen, auf den Sex übertragen. Wissen ist der Schlüssel zum Erfolg, um blinde Flecken zu erkennen und sein Verhalten nachhaltig zu steuern. Sexuelle Superreize lassen uns auf Dauer abstumpfen, ähnlich wie Geschmacksverstärker, künstliche Aromen und Zucker in Reinform beim Essen. Durch Sexfasten können wir wieder rezeptiver werden, ähnlich einer Fastenkur beim Essen, nach der ein Apfel auch wieder unendlich lecker schmeckt. Lieber auf Qualität setzen, weniger ist auch beim Sex oftmals mehr. Und den Mut aufbringen, offen mit dem Partner über Bedürfnisse und Ängste zu sprechen, die mit den vielen Neuerungen aufkommen. Die Liebe hat es schwer in den heutigen Zeiten der Versuchung, sie gibt der Sexualität indes Tiefe und Bedeutung. Es tut gut, sich hier frühzeitig zu positionieren.
Das Interview führte Petra Mostbacher-Dix.