Demokratie ungenügend: Vor 50 Jahren stellte Karin Storch dem deutschen Schulwesen in ihrer Frankfurter Abiturrede ein verheerendes Zeugnis aus. Ist es heute anders? Ein...
FRANKFURT/MAINZ. Es ist der 24. Juni 1967, als Karin Storch in der Aula der Frankfurter Elisabethenschule ans Rednerpult tritt. „Ungehorsam als Aufgabe einer demokratischen Schule“ lautet das Thema ihrer Abiturrede. Viele Wochen hat die Abiturientin an ihrem Vortrag gefeilt, mehrere Fassungen entworfen. „Das ist heute noch so. Ich muss etwas oft aufschreiben, bis ich zufrieden bin“, sagt die pensionierte ZDF-Auslandskorrespondentin.
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Doch am 2. Juni 1967 passiert etwas, was zum Leitmotiv der Schülersprecherin werden wird: Der Student Benno Ohnesorg kommt bei der Demo gegen den Schah-Besuch in West-Berlin ums Leben. „Er fiel, erschossen von einem Mann, den die Öffentliche Hand angestellt hatte, um die Freiheit und die Menschen zu schützen“, leitet Karin Storch ihre Rede ein. Ohnesorgs Tod werde so zum „Symbol in einer fatalen Auseinandersetzung über die Grenzen der Exekutive, insbesondere der Polizei“. Fünf Fragen stellt die damals 19-Jährige zum tödlichen Schuss des Polizisten Karl-Heinz Kurras. Der Frankfurter Lehrkörper muss sich auch ihre Antworten anhören.
„Meine erste Frage: Warum werden uniformierte Staatsdiener zur Knüppelgarde? Meine Antwort: Sie werden es, weil ungehorsame Demokraten in unserem Land ungewohnt sind. Weil niemand die Polizei gelehrt hat, wie man mit ungehorsamen Demokraten umgeht. Schuld sind die für die politische Erziehung Verantwortlichen.“*
Am Ende der Abiturrede rühren mehrere Lehrer keine Hand zum Applaus, notiert die Frankfurter Rundschau, die als erste Zeitung über den aufsehenerregenden Auftritt berichtet. Die Nachricht von der aufmüpfigen Abiturientin verbreitet sich in der Bundesrepublik. Während Schüler- und Studentenunruhen, die Universitäts- und Großstädte erschüttern, erscheint Storchs Brandrede wie eine dringend erwartete Erklärung. Das Kölner Schulamt verbreitet einen Abdruck. Die auf Initiative von Hildegard Hamm-Brücher gegründete Theodor-Heuss-Stiftung zeichnet die Studentin ein halbes Jahr später mit der Theodor-Heuss-Medaille aus.
Fünfzig Jahre danach wehrt sich die Journalistin bescheiden dagegen, ihren Mut überzubewerten. Einen „richtigen Skandal“ hätten ihre Worte nicht ausgelöst, meint sie. „Die Elisabethenschule hat sozialpolitisches Engagement gefördert.“ Für sie sei es ein Segen gewesen, auf der Mädchenschule gelandet zu sein. „Ich war keine gute Schülerin, bin mehrfach gewechselt.“ Die Grande Dame der ZDF-Auslandsberichterstattung verblüfft damit, Schulschwänzerin gewesen zu sein. „Es gab andere Orte wie das Kleine Jazzhaus, wo wir uns schon vormittags getroffen haben.“ Der unstete Teenager fängt sich, macht den Realschulabschluss und besteht die Aufnahmeprüfung für die Oberstufe. „Es war ein Abitur auf Umwegen.“ Reif wirken Storchs Worte zur Reifeprüfung. Sie selbst sagt: „Ich bin damit bis heute sehr einverstanden.“
„Meine zweite Frage: Warum gehen die Berliner Vorfälle unsere Schulen etwas an? Meine Antwort: Eines der Hauptversäumnisse der Weimarer Republik war es, zu wenig krisenfeste Demokraten zu erziehen. Es gab zu wenig Demokraten, die bereit waren, zwar kritisch und ungehorsam zu sein, dabei aber den Staat als ihren Staat anzuerkennen. Wo die Deutschen kritisierten, da gingen sie an die Wurzel des Staates, zerschlugen ihn, statt ihn zu bessern.“
Krisenfeste Demokraten – sind wir das heute? Karin Storch zögert – 50 Jahre nach ihrer Abiturrede – mit ihrer Antwort, nicht nur wegen des Erstarkens rechtsextremer Kräfte. Die deutsche Demokratie schwanke zwischen Gleichgültigkeit und Hysterie, meint sie dann: „Ein paar Wochen haben wir keine Regierung und schon ist von einer Krise die Rede.“ Andererseits, wenn die Bundeswehr ein neues Mandat fürs Ausland brauche, werde das durchgewunken, „ohne dass noch irgendeiner ein Plakat hochhält“. Ganz anders vor 50 Jahren, als die pazifistisch eingestellte Jugend gegen Kalten Krieg, Vietnam-Krieg und Nord-Süd-Konflikt demonstrierte. Doch nicht nur bei internationalen Themen merke sie, wie sehr sie durch 1968 geprägt sei, sagt sie: „Ich messe Vieles daran, zum Beispiel die heutige Datenüberwachung am einstigen Protest gegen die Notstandsgesetze.“
„Meine dritte Frage: Wo liegen die Grundlagen der Erziehung zum Ungehorsam? Meine Antwort: Wenn das, ehrende Andenken jener tapferen Widerständler am 20. Juli 1944 keine Farce ist, dann gehört die Pflicht zum Widerstand zu unserem Staatsdenken.“
Sie sei zur Wahrheitssuche von ihrem Opa ermutigt worden, der „gegen die Nationalsozialisten eingestellt war“, berichtet Karin Storch. Ein Vorbild war der Großvater aus einem weiteren Grund: Er achtete darauf, dass seine Tochter einen qualifizierten Beruf ergriff – Karin Storchs Mutter wurde Chemotechnikerin. Gleichberechtigung war für deren Tochter so selbstverständlich, dass sie sich auch zu Widerspruch innerhalb der Studentenbewegung aufgerufen sah. „Im SDS in Frankfurt wurden die Diskussionen nur von Männern geführt. Ich hatte das Gefühl, man redet über die großen Fragen der Menschheit, aber die besteht für diese Leute nur aus Männern, nicht aus Frauen. Das hat mich abgestoßen und vom linken Milieu entfernt.“
„Meine vierte Frage: Erziehen unsere Schulen zu Ungehorsam? Meine Antwort: Sie tun es leider zu wenig. Eine Ansicht vertreten, weil sie der Lehrer vertritt, darf nicht länger das Denken der Schüler beherrschen.“
In den 60er Jahren wurde die Jugend unmündig gehalten, meint Karin Storch. „Man war ja mit 20 noch nicht volljährig, ich wurde mit Frollein angeredet. Alles war sehr verkrustet. Dann kam die antiautoritäre Erziehung auf, an Schulen und Universitäten ein großes Thema.“ Nicht alles, was die 68er erkämpften, habe Bestand, reflektiert sie: Studierende interessierten sich heutzutage wenig für Politik. Und immer noch werde die Schulkarriere viel zu früh festgelegt: „Ich finde es schrecklich, wenn Kinder im Alter von zehn Jahren einsortiert werden.“
„Meine fünfte und letzte Frage: Wie sehen die Forderungen für die Zukunft aus? Meine Antwort: „Die Schule von morgen soll nicht zum Chaos erziehen, sondern zur Machtbalance. Es muss eine Schule sein, in der Ordnung und Auflehnung den gleichen Rang haben.“
Karin Storch will Journalistin werden, seit sie zehn Jahre alt ist. Nach dem Abitur studiert sie Politik und Volkswirtschaft. Dass über ihre Abiturrede berichtet wird, ebnet ihr den Weg zum ZDF: „Als ich die Theodor-Heuss-Medaille erhielt, kam ein Fernsehteam zu mir. Und ich habe gesagt, ich will die Nachrichtenredaktion kennenlernen. Später habe ich eine Hospitanz gemacht, bin beim ZDF hängen geblieben.“ Bis 2009 berichtet sie aus Washington, Brüssel, Rom und Tel Aviv, manchmal an der Seite ihres Manns Gerd Helbig, manchmal im Wechsel. Sie ist keine, die sich um der Karriere willen nach vorne drängt. Schnörkellos, ohne missionarischen Drang sind ihre Beiträge – die Zuschauer sollen sich selbst eine Meinung bilden, wie es um die Machtbalance steht. Vor 50 Jahren ist für die junge Karin Storch klar, wer die Schuld am Tod Benno Ohnesorgs trägt: „Wie wenig muss die Obrigkeit von der Pflicht zum Ungehorsam der Untertanen, die heute Staatsbürger sind, Ahnung haben, wenn sie töten lässt, nur weil Demokraten sagen, es solle auch in Persien Demokratie herrschen“, schließt sie ihre Abiturrede.
* Gefettet: Auszüge aus der Abirede. Kompletter Text unter www.grundgesetz-verwirklichen.de/bildung-und-erziehung