Interview mit Heinz Fritsche zu Arbeitsschutzkontrollen

WIESBADEN - Heinz Fritsche ist im Auftrag der IG Metall in den Vorständen der „Berufsgenossenschaft Holz und Metall“ sowie der „Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung“ (DGUV) tätig. In dieser Funktion ist er auch Vorsitzender des „Grundsatzausschusses Berufskrankheiten“ bei der DGUV. Fritsche ist Autor des „Schwarzbuchs Berufskrankheiten“. Im Interview fordert er mehr Arbeitsschutz-Kontrollen in Betrieben und mahnt mangelnde Qualitätssicherung bei den Berufskrankheiten-Verfahren an.

Herr Fritsche, mehr als 75.000 Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit wurden im Jahr 2017 gestellt - aber nur rund 19.000 wurden anerkannt. Sind viele gar nicht krank, sondern sogar Betrüger?

Es ist vermutlich nirgendwo schwieriger, zu betrügen, als im Berufskrankheiten-Recht. Die Fälle werden extrem sorgfältig untersucht. Fallzahlen sind auch deshalb so hoch, weil Ärzte angehalten sind, Verdachtsanzeigen zu stellen. Oft führt das zu automatischen Anzeigen, etwa, wenn ein Patient Lungenkrebs hat und in einem Alter ist, um arbeitsbedingt mit Asbest in Kontakt gewesen zu sein, ein Stoff, der inzwischen verboten ist. Dann wird standardmäßig Anzeige erstattet, um eine Anerkennung auf eine Berufskrankheit zu gewährleisten. Im Ermittlungsverfahren stellt sich dann oftmals heraus: Der Patient hat nie mit Asbest gearbeitet, dann ist das Verfahren zu Ende. Das ist ein Grund für die vielen Ablehnungen. Der andere Grund: Das Berufskrankheiten-Recht ist ungerecht.

Warum?

Die Logik bei Berufskrankheiten lautet: Ein Stoff löst eine bestimmte Wirkung aus. Etwa Asbest, das Krebs verursachen kann. Die Wirklichkeit ist aber komplexer. Ein Arbeiter, der mit Bauschaum zu tun hat, arbeitet mit einer Reihe von Stoffen, die in Bauschaum enthalten sind. Arbeitsmediziner sind sich sicher, dass es vielfältige Wechselwirkungen verschiedener Stoffe gibt, die noch nicht wissenschaftlich belegt sind. So kann es sein, dass ein Arbeiter, der einer Vielzahl von Stoffen ausgesetzt war, eine Berufskrankheit anzeigt. Reicht die Dosis eines einzelnen Stoffes nicht aus, um eine Berufskrankheit anzuzeigen, auch wenn fünf andere Stoffe aber über Wechselwirkungen möglicherweise eine Krankheit auslösen, wird die Anzeige nach geltendem Recht abgewiesen. Das ist ungerecht. Die Sachbearbeiter der Berufsgenossenschaft sind dann nicht die Schurken. Die machen ihren Job gut. Das Recht ist das Problem.

Werden die Betriebe vom Staat zu wenig auf Einhaltung der Arbeitssicherheit kontrolliert?

Ja, es gibt einen dramatischen Mangel an Gewerbeaufsicht. Statistisch gesehen wird ein Betrieb in Hessen nur alle 48 Jahre kontrolliert, in Rheinland-Pfalz nur alle 39 Jahre. Bundesweit liegen gut 29 Jahre zwischen zwei Besichtigungen. In Rheinland-Pfalz gibt es nur noch vier Landesgewerbeärzte, in Hessen ebensoviele, bundesweit waren es 2017 noch 68. Es gibt zu wenig Kontrolldruck durch den Staat. Beim Landesgewerbearzt werden Berufskrankheiten angezeigt. Er prüft die Verfahren und kann Einspruch erheben oder das Verfahren an sich ziehen. Gibt es zu wenige Landesgewerbeärzte, sind die Prüfungen zu oberflächlich oder erfolgen gar nicht. Das ist für den Versicherten so, als ob sein Anwalt ausfällt. Außerdem sind die meisten Berufskrankheiten nur deshalb aufgefallen, weil Landesgewerbeärzte eine Häufung entdeckten und zu Forschungen anregten. Aber in Deutschland hat sich in den vergangen zehn Jahren die Zahl der Landesgewerbeärzte halbiert. Das führt im Einzelfall dazu, dass eine Kontrollinstanz entfällt.

Sie fordern, die Gutachten der Berufsgenossenschaften genauer zu überprüfen.

Weniger die Gutachten, sondern die Gutachter. Es gibt Mediziner, die nur noch Gutachten schreiben und gar keine Praxis mehr führen. Die begeben sich dadurch in eine finanzielle Abhängigkeit, gleichzeitig fehlt ihnen die medizinische Erfahrung aus dem Praxisalltag. Wenn ein Gutachter nur über die Arbeiten für Berufsgenossenschaft Geld verdient, könnte das eine Gefahr sein, aus wirtschaftlichen Gründen nicht immer ganz genau zu arbeiten. Das kam immer wieder vor und ist für die Versicherten hochproblematisch. Es gibt insgesamt zu wenig Qualitätssicherung.

Wer kontrolliert die Gutachter?

Das könnten Landesgewerbeärzte am besten. Aber davon gibt es zu wenig.

Was kann ein Patient machen, wenn seine Erkrankung noch nicht als Berufskrankheit anerkannt ist?

Der Einzelne kann gar nichts machen. Der Sachverständigenbeirat beschäftigt sich erst mit einer neuen Berufskrankheit, wenn es dazu neue Studien und zahlreiche BK-Anzeigen gibt.

Der erste Patient einer noch nicht anerkannten Berufskrankheit hat also Pech gehabt?

Ja, leider. Es gibt keine Regelung für Krankheiten, die noch nicht in der Verordnung stehen. Wenn zu wenige betroffen sind, gibt es keine Statistik, zu wenig Daten und keine Forschung. Wir bräuchten dafür eine Härtefallklausel. Die gibt es nicht und sie ist auch bei der kommenden Reform der Berufskrankheitenverordnung nicht vorgesehen. Verfassungsrechtler kritisieren das. Auch die IG Metall wünscht sich eine Lösung für dieses Problem. Denkbar wäre zum Beispiel ein sozialpolitischer Ausschuss, der solche Fälle entscheiden könnte.