Ihre Mutter hat sich dafür geschämt, dass sie ein so dummes Kind hatte. Irgendwann glaubte Jacqueline selbst daran. Immer wieder hörte sie Sprüche wie: „Nett lächeln kann sie ja. Aber sie sollte besser den Mund halten.“ Dabei fing alles eigentlich ganz vielversprechend an. Die ersten Schuljahre war die kleine Jacqueline die Klassenbeste und stolz darauf. Zusammen mit ihrer Mutter wohnte sie in Ostberlin. Doch dann stellte ihre Mutter einen Ausreiseantrag. Jacquelines linientreue Klassenlehrerin sah in der Fünftklässlerin plötzlich „den Klassenfeind“ und machte Stimmung gegen sie. Die Mitschüler schnitten und hänselten sie. Immer wieder wurde das zierliche Mädchen auf dem Heimweg verprügelt. Die Noten gingen in den Keller.
Auch im Erwachsenenalter wurde die kleine, energische Frau mit den ausdrucksstarken Augen immer wieder für dumm gehalten: in der Ausbildung, auf der Arbeit und auch im Bekanntenkreis. Tief im Inneren wusste sie, dass das nicht stimmen konnte. Dass sie schneller als andere Zusammenhänge verstand und Informationen abspeicherte. Doch wenn ihr so viele sagten, sie sei dumm, musste doch etwas dran sein. Mehr als vier Jahrzehnte gingen ins Land bis sich Jacquelines Leben von einem auf den anderen Tag grundlegend änderte. Der Grund: ein Intelligenz-Test. Heute weiß die 54-Jährige, dass sie zu den zwei Prozent der Kinder gehörte, die weit überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten haben.
Man bescheinigte ihr einen Intelligenzquotienten (IQ) von 138. Von Hochbegabung wird in Deutschland ab einem IQ von 130 gesprochen. Doch anstatt sich zu freuen, brach Jacqueline in Tränen aus. Zu groß war die Trauer über die verlorenen Jahre. Über all die Ungerechtigkeiten und die verpassten Gelegenheiten.
Sie bekam ihre Gedanken nicht zusammen
Wie konnte das sein, dass so lange niemand ihre Intelligenz bemerkt hatte – noch nicht einmal sie selbst? Rückblickend erklärt sie sich das so: „Ich fuhr mein Gehirn auf Überlebensmodus herunter. Ich hatte überhaupt kein Allgemeinwissen und konnte mich an keinem Gespräch mehr beteiligen.“ Sprach sie jemand an oder versuchte sie sich auf etwas zu konzentrieren, hatte sie immer wieder „Aussetzer“ und bekam ihre Gedanken nicht zusammen. Ihre Strategie: Sie machte sich unsichtbar. „Wenn ich nichts mehr sage, kann ich auch nicht negativ auffallen“, dachte sie.
Gleichzeitig sagte eine Stimme in ihr immer wieder: Du kannst mehr. Sie begann nachts im Internet zu recherchieren und machte heimlich Intelligenztests. Nach drei Online-Tests wandte sie sich an den Hochbegabtenverein Mensa, um sich ganz offiziell testen zu lassen. „Das Ergebnis ist doch ganz egal“, redete sie sich ein. Doch ihre Emotionen fuhren Achterbahn.
Dann kam der Brief, der ihr schwarz auf weiß ihre hohe Intelligenz bescheinigte. Ihr Leben begann sich rasant zu verändern. Es war, als sei eine enorme Kraft in ihr freigesetzt worden. Plötzlich hatte sie jede Menge neue Ideen und Pläne. Sie wollte lernen, sich weiterentwickeln, etwas bewegen.
Seit sie über die Foren von „Mensa“ andere spät erkannte Hochbegabte traf, fühlt sie sich mit ihrer Geschichte nicht mehr allein. „Mensa“ ist ein weltweit tätiger Verein für hochbegabte Menschen mit 120 000 Mitgliedern aus allen Alters- und Bevölkerungsgruppen, davon 12 500 in Deutschland. Jacqueline gründete den Stammtisch „Post Cognosco“ und trifft sich seitdem regelmäßig mit anderen Hochbegabten in einem Berliner Café.
Die Hochbegabung als Fluch empfunden
Viele fühlen sich von ihrem Beruf nicht ausgelastet. Ständig gehen ihnen Ideen durch den Kopf. Manche empfinden die Hochbegabung sogar als Fluch. „Viele Hochbegabte leben ihr Leben bis zur Entdeckung in einem großen Gefühl von Einsamkeit. Sie fühlen sich unverstanden, irgendwie falsch, fremd – wie von einem anderen Stern“, weiß die Frankfurter Hochbegabtenexpertin und Buchautorin Anne Heintze. Hochintelligente haben außerdem oft mäandernde Lebensläufe oder Patchwork-Karrieren hinter sich. Auch Jacqueline absolvierte mehrere Ausbildungen: Facharbeiterin für Schreibtechnik, zahnmedizinische Fachangestellte, Zahntechnikerin und zahnmedizinische Prophylaxe-Assistentin.
Vielen gibt erst der Test den Mut, endlich das zu machen, was sie wirklich wollen. Mittlerweile studiert Jacqueline Jura und paukt nebenbei Sprachen: Spanisch, Englisch, Hebräisch, Italienisch. Und „für das Herz“ lernt sie Violine. Tätigkeiten, die sie sich ohne das Testergebnis nie zugetraut hätte.
Doch wie erkennt man eigentlich eine Hochbegabung? Typische Anzeichen sind etwa ein hohes Detailwissen, ein sehr gutes Verständnis von Zusammenhängen, ein ungewöhnlich umfangreicher Wortschatz, eine starke Vertiefung in bestimmte Themen und perfektionistische Ansprüche an sich selbst. Trotzdem wird sie leicht übersehen.
Untersuchungen zeigen, dass die schulischen Leistungen bei einem IQ von 118 bis 120 am höchsten sind. Die Hochbegabung beginnt aber erst bei 130. In einem Versuch sollten Lehrer raten, welche ihrer Schüler hochbegabt sind. Die Trefferquote lag nur bei fünf Prozent. 85 Prozent der guten Schüler sind gar nicht hochbegabt.
Erwachsene erfahren von ihrer Hochbegabung oft durch Zufall. Zum Beispiel, weil die eigenen Kinder hochbegabt sind oder weil sie im Zuge von Erkrankungen wie Depressionen oder Burnout ein Test absolvieren. Hochbegabte sind anders als die übrigen 98 Prozent der Bevölkerung. Um dazuzugehören, passen sich viele trotzdem an. Oft auf Kosten der eigenen Identität. Nicht ganz grundlos haben viele Skrupel, sich zu outen. Sie haben Angst, dass die Erwähnung ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz negative Auswirkungen auf ihr Privat- oder Berufsleben haben könnte. Statt mit Leistung aufzutrumpfen, stapeln sie tief. Besonders gefährdet sind die, die als Kinder wenig Förderung erhalten haben, so wie Jacqueline.
Traurig darüber, wie ängstlich sie gelebt hat
„Underachiever“ nennt Heintze Menschen, die trotz vorhandener Talente oder Fähigkeiten mit ihren Leistungen weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Manchmal ist Jaqueline traurig darüber, wie angepasst und ängstlich sie gelebt und wie wenig sie sich zugetraut hat. Sie fragt sich: „Wo könnte ich mit meinen Fähigkeiten heute stehen, wenn alles anders gelaufen wäre?“
Nicht jeder Hochbegabte ist übrigens ein Genie oder Sonderling. Trotzdem werden sie schnell in eine Schublade gesteckt und müssen sich Fragen anhören wie: „Was, du? Warum bist du dann nicht Professorin?“ Oder: „Das weißt du nicht? Und du willst hochbegabt sein?“
„Es gibt noch so viel Unwissen im Bereich Hochbegabung“, bedauert Heintze, die schon mehrere Bücher zum Thema geschrieben hat. Dadurch läge enorm viel Potenzial brach – mit Konsequenzen für die ganze Gesellschaft. „Überlegen Sie sich, was die zehn Prozent der Menschen mit einem IQ ab 120 Außerordentliches leisten könnten, wenn sie in einem Unternehmen an der richtigen Stelle sitzen würden.“