Wenn Lehrer überfordert sind - Pädagogin will klare Regeln für Integration
Die frühere Frankfurter Lehrerin Ingrid Freimuth beschreibt in ihrem Buch ein Grundproblem der Integration: Die sanfte deutsche Schulpädagogik ist überfordert mit Mitgrantenkindern, deren Sozialverhalten an Rangordnungen orientiert ist. Deren Integration scheitert, wenn Politik und Schule nicht endlich klare Regeln für ein funktionierendes Miteinander formulieren.
Von Frank Schmidt-Wyk
Reporter Rheinhessen
Ingrid Freimuth (kleines Foto) fordert klare Regeln für die Integration von Schülern. Fotos: Sascha Kopp, dpa
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REGION - Fast drei Jahrzehnte ihres Berufslebens verbrachte Ingrid Freimuth (71) im Schuldienst, überwiegend an Haupt- und Realschulen, weitere zehn Jahre gab sie Deutschkurse für Einwanderer. Während der ganzen Zeit notierte sie ihre Erfahrungen in einem Tagebuch. Ihre Aufzeichnungen verarbeitete sie zu einem Buch, das im März im Europa Verlag erschien: „Lehrer über dem Limit - Warum die Integration scheitert“. Darin schildert sie offen und ohne Scheu die Schwierigkeiten, vor die Lehrer im Umgang mit Schülern mit Migrationshintergrund gestellt sind, speziell mit männlichen Jugendlichen aus muslimischen Familien. „Lehrer über dem Limit“ steht in einer Reihe mit den Veröffentlichungen der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig („Das Ende der Geduld“, 2010), des Berliner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky („Neukölln ist überall“, 2012) und der Bochumer Polizistin Tania Kambouri („Deutschland im Blaulicht“, 2015), die sich mit ähnlichen Problemen in ihrem jeweiligen Bereich befassten. Wie ihre Vorgänger traf Freimuth einen Nerv und stieß eine breite Diskussion an; Markus Lanz und Maybrit Illner luden sie in ihre Talkshows ein.
Ein Café im Frankfurter Westend – dort redet die Autorin und frühere Lehrerin Ingrid Freimuth im Gespräch mit dieser Zeitung genauso Klartext wie auf den 240 Seiten ihres Buchs.
Frau Freimuth, könnte man Ihr Buch so zusammenfassen: Ignorante Politiker lassen die Lehrer allein mit schwierigen Schülern, viele von ihnen mit Migrationshintergrund – die Situation ist kritisch und lässt sich nur durch hartes Durchgreifen an den Schulen noch in den Griff bekommen?
So ungefähr. Der Staat schafft mit seiner Einwanderungspolitik Probleme – und die Schulen, besonders Grund-, Haupt- und Realschulen, müssen sehen, wie sie damit fertig werden. Es wird ignoriert, dass es sich bei den Zuwanderern oft um Menschen handelt, die ganz anders sind, sich ganz anders verhalten als wir es gewohnt sind. Sie kommen aus Gesellschaften, in denen strikte Rangordnungen herrschen, Männer ständig um Positionen kämpfen und Frauen ganz unten rangieren.
Und mit diesem Phänomen gehen wir in Deutschland zu naiv um, meinen Sie?
Ja. Sich mit diesem Problem zu befassen, ist ein Wagnis, weil das Denken der Mehrheit in unkritischen Bahnen verläuft. Auszubrechen ist mit Verboten belegt.
Zur Person
Ingrid Freimuth, geboren 1946 in Melsungen (Schwalm-Eder-Kreis), Diplom-Pädagogin; 1966 bis 1970 Lehramtsstudium (Sekundarstufe I) an der Goethe-Universität Frankfurt, anschließend Lehrtätigkeit an der Integrierten Gesamtschule Raunheim (heute Anne-Frank-Schule), parallel Ausbilderin am Studienseminar Groß-Gerau. 1976 Auswanderung auf eine griechische Insel; nach ihrer Rückkehr 1983 bis 1988 Lehrtätigkeit an Haupt- und Realschulen in Frankfurt, parallel in der Lehrerfortbildung tätig; ab 1992 zusätzlich Deutsch-Intensivkurse für Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien. 1998 psychischer Zusammenbruch, Ausscheiden aus dem Schuldienst. 1999 bis 2006 Einzelförderung von Schülern für die Stadt Frankfurt; anschließend bis 2017 Kurse für Erwachsene: Deutsch als Fremdsprache an der Volkshochschule.
Sie reden von Tabus? Handelt es sich nicht eher um eine scharf geführte gesellschaftliche Debatte, in der man auch Widerspruch dulden muss?
Es gibt Beispiele für existenzbedrohliche Reaktionen. Man hat im Hinterkopf, dass man seinen Job verlieren kann, dass man geächtet, in die rechte Ecke gestellt wird. Auch ich hatte zunächst Angst, als ich mich entschloss, mein Buch zu veröffentlichen.
Und? Wurden Sie in die rechte Ecke gestellt?
Bis jetzt noch nicht. Es gab wirklich nur positive Rückmeldungen. Es haben sich auch einige Lehrer gemeldet und sich bedankt. Einer aus Neukölln hat sich sogar entschuldigt, dass er dieses Buch nicht längst selbst geschrieben hat.
In Deutschland, so behaupten Sie, wird gegenüber Einwanderern zu wenig auf die Einhaltung von Regeln gepocht. Wie kommen Sie zu dieser Feststellung?
Die Angst zu reglementieren, sitzt offenbar ganz tief drin – möglicherweise, weil wir unterbewusst fürchten, sonst als Nazis dazustehen. Diese Barriere müssen wir überwinden. Stattdessen eiern wir herum in dem Bemühen, niemanden zu verletzen, und sehen die Probleme nicht, die dadurch erst entstehen. Ich habe in der Volkshochschule erwachsene Zuwanderer kennengelernt, die keine eigenständige Entscheidung treffen konnten. Diesen Menschen müssen wir Vorgaben machen. Sonst übernehmen das Islamisten – wenn es schief läuft.
Und in der Schule? Dort kann es doch nicht nur um Einhaltung von Regeln gehen. Soll Lernen nicht auch Spaß machen?
Klar, wenn es sich anbietet. Aber man muss auch üben – und das macht nicht immer Spaß. Wichtig beim Lernen ist aber noch etwas ganz anderes: Dass man sich öffnet. Bei Schülern, die Probleme machen, hakt es meist genau an diesem Punkt. Die geben den Macho, die wollen sagen, wo es lang geht, die können nicht fragen. Lernen kann aber nur, wer eingesteht, dass er etwas nicht weiß. Der Macho kann das nicht und verbaut sich damit den Weg in unsere bürgerliche Gesellschaft.
Sie sprechen von männlichen muslimischen Jugendlichen?
Nicht nur. Aber die sind mir am meisten aufgefallen. Weil sie auch eine Ideologie mitbringen.
Wenn dieses Verhaltensmuster fester Bestandteil der Sozialisierung dieser Schüler ist, wie kann es ein Lehrer knacken?
Eine Patentlösung habe ich auch nicht. In jedem Fall müssten sich Lehrer so verhalten, dass diese Kinder und Jugendlichen Respekt vor ihnen haben. Dazu müssen wir uns einen Schritt weit auf ihre Denkweise einlassen. Die müssen sehen, dass ich auch den Macho kann. Leicht gefallen ist mir das nicht. Aber solange ich es durchhalten konnte, hat es funktioniert. Vielleicht hätte ich länger durchgehalten, wenn ich mehr institutionelle Unterstützung gehabt hätte.
Haben es weibliche Lehrkräfte schwerer, mit diesen Machos fertig zu werden?
Vermutlich. Andererseits sind viele Frauen durchaus in der Lage, sich autoritär zu verhalten – sogar autoritärer als mancher Mann. Wie man ja an unserer Kanzlerin sieht: In ihrem männlich geprägten Umfeld scheint sich wenig Widerspruch zu regen.
Klare Ansagen sind also für Sie die Lösung? Auch Strafen?
Da muss man trennen. Zur Zeit meiner eigenen Kindheit gab es demütigende Strafen – es ist gut, dass das vorbei ist. Ich spreche von Sanktionen, das ist ein Unterschied. Ich verstehe darunter Reaktionen, mit denen ich Andere spüren lasse, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist. Ein Schüler muss merken, wenn er eine Grenze überschreitet. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche, die aus Kulturen kommen, in denen es entsetzliche körperliche Strafen gibt. Keinesfalls sollten wir das nachahmen, aber wir müssen Formen finden, um mit unseren Mitteln deutlich zu signalisieren: Hier ist die Grenze. Einem Schüler, der ständig Fäkalsprache benutzte, habe ich beispielsweise klar gemacht: Ich rede nicht mit dir, solange du so sprichst. Das hat Wirkung gezeigt.
Im Buch fordern Sie, Lehrern eine zweite Autorität zur Seite zu stellen, die Fehlverhalten der Schüler sanktioniert.
Nirgendwo in der Gesellschaft ist ein Funktionsträger gleichzeitig der Sanktionierende. Ein Richter etwa kann die Gerichtsdiener rufen. In der Schule könnten das Securitykräfte übernehmen.
Ist das Ihr Ernst?
An vielen Schulen, die ich kennengelernt habe, wäre das sinnvoll. Wie würden Sie mit einem Schüler umgehen, der zu seinem Lehrer sagt: Ich mach dich tot? Ich fände es hilfreich, wenn ich in einem solchen Moment die Möglichkeit hätte, den Schüler aus dem Unterricht entfernen zu lassen.
Sie haben solche Drohungen selbst erlebt?
Mir wurden solche Fälle berichtet und ja, ich habe es auch selbst erlebt. Ein Schüler reagierte genau so, als ich ihn aufforderte, das eben Geschriebene noch einmal zu schreiben, weil es unleserlich war.
Moderne Pädagogik ist eher um Deeskalation bemüht – Sie dagegen scheinen die Eskalation nicht zu scheuen.
Ich sehe das genau andersherum: Ich sorge dafür, dass die Eskalation gestoppt wird. Bei mir hat das jedenfalls funktioniert. Ich wurde respektiert. Aber das musste ich mir jeden Tag neu erkämpfen.
Wie Sie im Buch beschreiben, greifen manche Schüler auch zu subtileren Mitteln und drängen die Lehrer in die Defensive, indem sie ihnen Ausländerfeindlichkeit vorwerfen.
Dieser Begriff ist zu einem Schlagwort geworden, um sensible Deutsche mundtot zu machen. Auch unter den Schülern ist das zu beobachten. Statt „Ausländerfeind“ sagen sie heute allerdings meist „Rassist“.
Das ist Normalität im Schulalltag?
Ja. Momentan scheinen allerdings antisemitische Beschimpfungen das große Thema zu sein. Ich habe in meiner Schullaufbahn die Evolution der Schimpfwörter so erlebt: Du Spast! – Du Opfer! – Du Jude! Ein ehemaliger Schüler an einer Integrierten Gesamtschule hier in Frankfurt hat mir in einer Mail geschildert, wie er schon vor Jahren von einer muslimischen Gang malträtiert wurde. Momentan diskutieren wir intensiv über das Mobbing jüdischer Schüler durch muslimische Schüler, aber wir sollten auch erwähnen, dass nicht-muslimische Schüler – deutsche wie nichtdeutsche – ähnlich gemobbt werden.
Beim Lesen Ihres Buches könnte der Eindruck entstehen: Ausländische Schüler machen grundsätzlich Probleme. Verallgemeinern Sie zu stark?
Gleich in der Einleitung habe ich darauf hingewiesen, dass ich den Fokus auf die Probleme lege. Selbstverständlich haben wir in der Klasse auch viel zusammen gelacht und uns wohlgefühlt. Der Vorwurf der Pauschalisierung kommt oft reflexartig, darauf reagiere ich inzwischen fast schon allergisch. Wenn ich sage: In Hamburg hat es geregnet, muss ich heutzutage offenbar gleich dazusagen: In Hamburg scheint aber auch mal die Sonne. Zum Kuckuck, das weiß doch jeder! Als ich da war, hat es aber geregnet – es muss doch möglich sein, das klar auszusprechen!
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Das Buch: Ingrid Freimuth: Lehrer über dem Limit - Warum die Integration scheitert. Europa Verlag, 240 Seiten, 16,90 Euro.