Rehbergs Analyse: 05 mit Flatterhammer, Matchglück und Karius

Christian Clemens erzielt den Siegtreffer gegen Borussia Mönchengladbach. Foto: Harald Kaster

Ohne Punkte auf die Autobahn geschickt hat Mainz 05 am Freitagabend Borussia Mönchengladbach. Wie und warum die Mainzer an diesem Abend die Oberhand behielten, analysiert...

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. Nach der Partie wurde noch sehr viel erzählt über die physischen Aspekte in dieser Partie. Andre Schubert startete diesen Diskurs über die leichtathletischen Inhalte im Fußball. Der Gladbacher Trainer sprach den 05ern ein Lob aus für 125,2 gelaufene Kilometer und für überragende 262 Sprints. Und man hätte auch noch die gewaltigen 814 intensiven Läufe der Mainzer Profis anführen können und individuelle Laufleistungen nahe an der 13-Kilometer-Marke. All das dokumentiert die riesige Bereitschaft und eine außergewöhnlich leidenschaftliche Vorstellung der Mannschaft von Martin Schmidt. Und doch werden sich die Gäste vom Niederrhein nach diesem 0:1 in der Coface Arena noch im Bus das Hirn zermartert haben bei der Suche nach einer halbwegs vernünftigen Antwort auf die Frage: Wie kann es passieren, dass man nach diesen 90 Minuten ohne Punkt zurück auf die Autobahn geschickt wird?

Manchmal lässt sich die komplexe Geschichte eines Fußballspiels ganz einfach erzählen. Einen dicken Packen von rund 80 Seiten spuckt der Computer nach einem Bundesligaspiel an Messdaten aus. Das Ergebnis passt in eine Zeile. Und das Ergebnis entsteht über Wertungspunkte: Tore. Die 05er, die aufopferungsvoll verteidigt haben, die ein paar gute Konterzüge hatten, die Willen gezeigt haben und vor allem extrem viel gelaufen sind, haben ein Tor geschossen. Die Borussia, die anspruchsvolle, filigran auf den Rasen gezirkelte Kombinationsmuster angeboten hat, nicht. Zwei Szenen dokumentieren, wie im Fußball derartige Spielausgänge immer wieder zustande kommen.

Tempodribbling, Notpass, Flatterhammer

21. Minute. Stefan Bell erobert in der Mitte der eigenen Hälfte die Kugel und löst damit die Umschaltchance aus. Weiterleitung zu Jairo, glänzendes Tempodribbling durch zwei Gegenspieler hindurch, im Stolpern ein Notpass zu Christian Clemens. Der Rechtsaußen wird 20 Meter vor dem Gladbacher Kasten nicht attackiert, ein Flatterhammer mit merkwürdiger Flugkurve, das umjubelte 1:0 für die Mainzer. Die in diesem Moment wissen, zumindest ahnen: Wenn wir mal führen, dann verlieren wir nicht mehr. Dieses mit Saisonbildern unterlegte Erfahrungsgefühl verleiht Flügel. Da wächst das Selbstvertrauen, da wächst die Überzeugung. Nur nebenbei: Jairo und Clemens hatten schon am zweiten Spieltag beim überraschenden 2:1 in Mönchengladbach die Tore geschossen.

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72. Minute. Ein Moment, der die Zuschauer von den Sitzen riss, fast noch emotionaler gefeiert als der Führungstreffer. Der Gladbacher Oscar Wendt kam nach einem perfekten Tiefenpass in einem spitzen Winkel in eine freie Position vor Loris Karius, der Linksverteidiger umkurvte den 05-Keeper. Präzise Flanke. Kopfball Lars Stindl auf den leeren Kasten – Schutzmann Gaetan Bussmann blockte mit seinem Schädel. Abpraller. Raffael ballert noch mal gezielt aufs Gehäuse: Bussmann wehrte sich am Boden, nahezu chancenlos – und dann war Karius aus einer Entfernung von gut acht Metern noch rechtzeitig herangesprintet, und mit einem explosiven Panthersprung kratzte der Torhüter die Kugel noch von der Torlinie. Eine Weltklasseaktion. Das sind die Augenblicke, in denen keine Laufkilometer und keine Sprints helfen, da entscheiden: Überragendes Können und Matchglück!

Karius mit Top-Leistung

Loris Karius hat sein Team an diesem Abend gerettet mit einer Leistung von internationalem Zuschnitt. Schon vor der Pause hatte der noch junge, aber schon sehr gereifte Torhüter eine Riesenparade gegen Raffael, als Karius den frei vor ihm aufgetauchten Gladbacher Torjäger im Strafraum mit einer Blitzreaktion mit der linken Hand zur Verzweiflung brachte. Und das gelang ihm auch kurz darauf in Zusammenarbeit mit Leon Balogun gegen den geschickten Dribbler Lars Stindl. Und dass die Gladbacher drei freie Abschlussgelegenheiten nach großartigen Standardvorlagen nicht nutzten, eine letzte Sekunden vor dem Abpfiff, das mag geschuldet gewesen sein einer Mischung aus fehlendem Glück und Respekt vor dem überragenden Mainzer Mann zwischen den Pfosten.

Am Ende hatte sich das alte Westernbild zementiert: Ein asiatischer Kämpfer mit drahtigem Körper vollführt zum finalen Höhepunkt der Story minutenlang erstaunliche und vor allem bedrohliche Schlag- und Sprungtechniken – und dann zieht der ins Alter gekommene Westernheld mit abgebranntem Zigarrenstummel zwischen den rissigen Lippen gelangweilt seinen Colt und beendet das ungleiche Duell mit einem einzigen Schuss. Und zu diesen Geschichten aus dem Wilden Westen gehört auch immer ein Barkeeper, der im Saloon noch mitten in der größten Massenschlägerei in Seelenruhe seine Arbeit macht. Die 05-Helden an diesem aufregenden Freitagabend waren der abgeklärte Siegschütze Christian Clemens und der unerschütterliche Keeper Loris Karius.

Schubert-Elf mit Kunst und Wunder gegen Achter-Burg

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Fußball gespielt haben die Gladbacher. Kunst und Wunder hat die Schubert-Elf aufgeführt, für einen Wertungspunkt hat es nicht gereicht. Eindrucksvoll flexibel haben die ersatzgeschwächten Gäste, die ihren hochtourigen Maschinenraum (die Sechser Granit Xhaka und Mahmoud Dahoud) ersetzen mussten, kombiniert und angegriffen. Ballsicherheit. Passsicherheit. Permanente Positionswechsel in ihrem im eigenen Ballbesitz praktizierten 3-4-3-Offensivsystem. Doch die 05er schafften es mit ihrer eng verschiebenden Achtmann-Burg, dem kombinierenden Gegner das Tempo zu rauben und dem anstürmenden Gegner - bis auf wenige Ausnahmen - keine Angriffstiefe zu gestatten.

Die 05er haben den Tabellenvierten geschlagen, ihre Tabellenlage gefestigt und vor dem Auswärtsauftritt in Hannover Druck aus dem Kessel entweichen lassen. Dennoch: Der Weiterentwicklungsbedarf sollte nicht übergangenen werden. Erstens: Als Umschaltmannschaft benötigt das Schmidt-Team einen aggressiveren Zugriff in den Mittelfeldzonen und mehr aktive Balleroberungen, um mehr klare Konterzüge einleiten zu können. Zweitens: Die Nachvorneverteidigung funktioniert noch zu selten, die Mannschaft igelt sich zu schnell und zu bereitwillig am eigenen Strafraum ein. Drittens: Situationen, die sich nicht für einen direkten Konterüberfall eignen, müssen die 05er irgendwann besser ausspielen - das Gladbacher Gegenpressing war unangenehm, die Mainzer Passlösungen entsprachen in einigen Momenten aber auch nicht der inzwischen in diesem Team vorhandenen fußballerischen Qualität. Angenehm für den Trainer, wenn diese Kritik angebracht wird nach einem umjubelten Heimsieg gegen ein künstlerisch hochwertiges Champions-League-Ensemble.