Der Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, hat mit als Erster die Entfernung des antisemitischen documenta-Werks gefordert - und plädiert nun für Dialog.
BERLIN. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und Professor für Internationale Soziale Arbeit (Frankfurt University of Applied Sciences), war einer der ersten, der die Entfernung des antisemitischen Banners „People‘s Justice“ von der documenta gefordert hat – und nun gleichzeitig dafür plädiert, die Eskalation des Skandals als Chance zu nutzen, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen. Ein Interview.
Herr Mendel, haben Sie nach wie vor Hoffnung auf einen Dialog?
Es gibt dazu keine gute Alternative. Wenn wir nicht konstruktiv diskutieren, uns nicht gemeinsam mit den Künstlern der Problematik stellen, bedeutet das, dass die documenta vielleicht vorzeitig beendet werden muss. Das kann niemandem nützen. Es gibt jetzt schon genug hetzerische Stimmen, die die ganze documenta als antisemitisch bezeichnen. Ich finde es sehr problematisch, wenn wegen einigen Künstlern auch alle anderen 1500 Künstler die an der documenta mitgewirkt haben, als antisemitisch bezeichnet werden. Deshalb ist es wichtig, in einen kritischen Dialog und die Auseinandersetzung zu treten.
Aktuell spitzt sich die Lage weiter zu, Rücktrittsforderungen an documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann werden laut. Welche Vorwürfe kann und muss man den Verantwortlichen machen?
Bundespräsident Steinmeier hat es in seiner Eröffnungsrede auf den Punkt gebracht: Verantwortung lässt sich nicht outsourcen. Zu Recht führen wir jetzt eine große Diskussion über die gesamte Struktur dieser documenta. Wir haben mit Ruangrupa ein Künstlerkollektiv als Kuratoren, deren Arbeitsprinzip nicht dem entspricht, was wir als kuratorische Arbeit verstehen: Die Exponate hinsichtlich ihrer Qualität und ihrer Eignung für die Gesamtschau zu begutachten. Man kann daher fragen, wieso die Findungskommission Ruangrupa diese Arbeit überhaupt übertragen hat. Und Frau Schormann kann man berechtigterweise die Frage stellen, wer die kuratorische Verantwortung dann trägt, wenn das Kuratorenkollektiv es nicht tut. Dass die weltgrößte Kunstschau ohne klar Verantwortlichen erstellt wird – hier hätten die Alarmglocken schrillen müssen. Und es hat sich jetzt als Fehler erwiesen. Mir geht es aber darum, dass die Fehler korrigiert werden und nicht darum, Rücktritte zu fordern. Die letzten Tage haben auch gezeigt, dass eine Selbstreflexion bei den Verantwortlichen eingesetzt hat.
Die Generaldirektorin hat angekündigt, dass nun auch andere Werke der documenta 15 überprüft werden und erwähnt, dass Sie bereit sind, beratend tätig zu sein. Wie könnte das aussehen?
Ich kann natürlich nichts über die künstlerische Qualität der Werke sagen, das ist nicht meine Expertise. Aber was ich machen kann, und wofür ich angefragt wurde, ist, zu beurteilen, inwiefern in Kunstwerken antisemitische Codes zu finden sind – und wenn ja zum Umgang mit solchen Werken zu beraten.
Viele bezeichnen den aktuellen Skandal als Skandal mit Ansage. Sie haben die documenta und Ruangrupa gegen im Vorfeld geäußerte Antisemitismus-Vorwürfe jedoch verteidigt, sahen diese als teils problematisch an. Wie enttäuscht sind Sie, dass allen Beteuerungen zum Trotz nun ein zweifelsfrei antisemitisches Bild zu sehen war?
Man sollte nicht den Fehler machen zu sagen, nur weil nun ein klar antisemitsches Kunstwerk ausgestellt wurde, bedeutet das, dass alle Vorwürfe, die seit Januar kursieren, berechtigt sind. Es gab diverse Vorwürfe, viele davon waren falsch. Und gleichzeitig steht außer Frage, dass die Tatsache, dass nun ein antisemitisches Bild gezeigt wurde, ein großes Versäumnis ist. Das war auch für mich eine Enttäuschung – aber wir sollten daraus keine falschen Schlüsse ziehen.
Können Sie noch einmal erläutern, weshalb man die Motive in „People’s Justice“ von Taring Padi als antisemitische Hetze bezeichnen muss?
Die Motive im Bild greifen auf judenfeindliche Motive zurück die seit dem Mittelalter in Europa verbreitet sind: Juden mit Vampirzähnen, Hakennase, blutunterlaufenen Augen und Schläfenlocken. Dazu kommt mit den SS-Runen auf dem Hut eine moderne Form des Antisemitismus, die nach 1945 entstanden ist: Die Täter-Opfer-Umkehr, bei der behauptet wird, Juden heute seien so schlimm wie die Nazis damals. Auch die Darstellung von Juden als Schweinen hat eine lange Tradition – das Schwein gilt im Judentum als unreines Tier, wurde daher zur Beleidigung genutzt. Auf mehreren Ebenen greift das Bild also auf antisemitische Motive zurück.
Die Künstlergruppe Taring Padi verweist auf den indonesischen Entstehungskontext des Banners – wieso kann das keine Entschuldigung sein?
Das ist offensichtlich absurd. Man muss zum Beispiel fragen: Wieso werden Juden überhaupt auf einem indonesischen Bild abgebildet? In Indonesien leben 200 jüdische Menschen, bei fast 300 Millionen Einwohnern. Wieso wird diese winzig kleine Minderheit als jemand dargestellt, der die Welt kontrolliert? Das ist kein genuin indonesisches Kulturgut, sondern ein Exportgut des europäischen Antisemitismus, der in den letzten Jahrzehnten in den Ländern im globalen Süden angekommen ist.
Man kann bei Vorfällen wie diesem – ohne die Situation in Deutschland beschönigen zu wollen – schnell zu der Annahme kommen, dass antisemitische Ansichten in außereuropäischen und insbesondere muslimisch geprägten Ländern noch häufiger sind. Wieso müssen wir mit solchen Pauschalurteilen vorsichtig sein?
Es ist eine Tatsache, dass sich vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen den arabischen Ländern und Palästina einerseits und Israel andererseits in breiten Teilen der muslimischen Welt ein Feindbild gegen Israel verbreitet hat. Ein Feindbild, bei dem es dann auch schnell nicht mehr nur um den Staat Israel geht, sondern um klassische antisemitische Vorurteile gegen Juden insgesamt. Aber man darf auch niemanden wegen seiner Herkunft unter Generalverdacht stellen – daher war es mir auch wichtig, die documenta nicht unter Generalverdacht zu stellen, nur weil sie von Künstlern aus dem globalen Süden kuratiert wird.
Von Johanna Dupré