Wiesbadener Familien bangen um Angehörige in der Türkei

Menschen versammeln sich um ein eingestürztes Gebäude in Pazarcik in der südtürkischen Provinz Kahramanmaras.

Verzweifelt warten Wiesbadener, die Verwandte und Freunde in den Erdbebengebieten haben, auf Lebenszeichen. Die ersten Hilfstransporte aus der Region sind bereits unterwegs.

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Wiesbaden. „Mein Onkel, meine Tante und deren jüngster Sohn sind unter den Trümmern.“ Aysegül Sirin und ihre Familie sind verzweifelt. Ihre Verwandten wohnen in Antakya, nicht weit von syrischen Grenze. Das Haus, in dem sie gelebt haben, steht nicht mehr. „Es hatte neun Stockwerke, ihre Wohnung war im dritten Stock.. Sie wurden, wie alle, im Schlaf überrascht.“ Aysegül Sirin wohnt in Wiesbaden, genauso wie ihre Mutter und ihre Geschwister. Ihr Vater lebt nicht mehr. Er wurde nach seinem Tod in der Stadt begraben, in der sie jetzt um das Leben der anderen Verwandten bangen. „Es ist so schrecklich”, sagt die Apothekerin.

Weil sie es alleine nicht daheim aushielten, haben sich alle bei ihr getroffen am Montag, nachdem die Nachrichten immer schlimmer wurden. Immer wieder versuchen sie, an neue Informationen zu kommen. Ein Onkel hat sich von Ankara aus auf den Weg gemacht. Zwei weitere Kinder der Verschütteten haben die Nacht mit ihren Kindern im Auto verbracht. Und hoffen, dass ihre Verwandten gerettet werden können. „Man kann nur aus einer Richtung in die Stadt hineinkommen. Heute sollen die ersten Helfer ankommen“, hat Aysegül Sirin gehört. 48 Stunden lang werde die Zufahrtsstrecke für Privatfahrtzeuge gesperrt, damit Rettungskräfte und Maschinen durchkommen. Es regnet, es ist kalt. Aber die Menschen müssen draußen ausharren. Weil es teils keine Häuser mehr gibt und weil andere durch Nachbeben einsturzgefährdet sind.

Viele suchen über Social Media

„Hier versuchen alle über Social Media irgendwie an Informationen und Kontakte zu kommen”, beschreibt die 44-Jährige die Situation. Sie werde angeschrieben, auf Instagram, auf Twitter, ob sie irgendetwas gehört habe von Menschen, die vermisst werden. „Wir versuchen das alle so.” Und dann zwischendurch kleine Hoffnungsschimmer: „Ich habe eben gehört, dass ein zwei Monate altes Baby nach 29 Stunden lebend gefunden wurde.” Die Wiesbadenerin hofft, „dass viele Menschen helfen, dass viele Menschen spenden”.

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Auch der Wiesbadener Ausländerbeirat ruft zu Geldspenden auf. Bei seiner Sitzung am Dienstag wird das Gremium eine Schweigeminute für die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei abhalten. Vorsitzender Ibrahim Kizilgöz erlebt die „große Dynamik des Geschehens” gerade. „Es gibt Gegenden, da kommt man überhaupt nicht hin”, weiß er. „Man ist in einer Art Schockzustand.” Bei einem Treffen verschiedener Vereine in Mainz am Montag habe man beschlossen, sich erst, wenn möglich, einen Überblick zu verschaffen, bevor man beispielsweise eine Sachspendenaktion ins Leben ruft. Er selbst ist Vorsitzender des Bundes der Arbeiter aus der Türkei. „Die Menschen kontaktieren uns und fragen, wie sie helfen können, fragen nach Spendenaktionen.” Kizilgöz rät:„Wenden Sie sich an eine Organisation, der Sie vertrauen und spenden Sie am besten Geld.”

Einer, der besonders schnell gehandelt hat, war Yasar Akyol. Der Fußballer, der beim Türkischen SV aktiv ist, hatte erst in einem Video in den sozialen Medien angeboten, Sachspenden direkt von den Häusern der Spendenden abzuholen. Schnell entwickelte sich ein gemeinsames Projekt, bei dem „Hunderte Helfer” mitwirkten, wie Akyol berichtet. An zwei Sammelpunkten - einer Autowerkstatt in der Hagenauer Straße sowie einem Supermarkt in der Erich-Ollenhauer-Straße - wurden Sachspenden eingesammelt, in Kartons verpackt und von dort in Lieferwagen nach Taunusstein geschafft. Von dort startete am Montagabend schon ein erster Lastwagen-Transport in Richtung Türkei, organisiert von der Kadir-Moschee. „In den nächsten Tagen kommt noch mehr”, verspricht Akyol. Auch mehrere Geschäftsleute haben sich an der Aktion beteiligt.

Zelte und Öfen werden aufgestellt

Der Wiesbadener Arzt Dr. Michael Wilk unterstützt als Notarzt humanitäre Projekte in Krisengebieten und ist seit 2014 immer wieder in Nordostsyrien, wo er eng mit dem Kurdischen Roten Halbmond zusammenarbeitet. Nach den Erdbeben hat er mit Menschen vor Ort telefoniert, berichtet er. Zwar seien die Schäden in diesen Gebieten geringer als im Epizentrum der Erdbeben. „Doch auch dort sind Gebäude eingestürzt und die Menschen haben Angst, zurück in ihre Häuser zu gehen.“ Bei Temperaturen um die null Grad sei das natürlich gefährlich. Deshalb werden nun Zelte und Öfen aufgestellt, Decken verteilt. Es gebe einen „Versorgungsnotstand“ – und das in Gebieten, in denen die Infrastruktur schon vor den Beben nicht gut war. Hinzu komme: Die von der Türkei besetzten Gebiete seien auch nur von der Türkei aus zu erreichen. Er befürchtet, dass die Hilfe dort weniger Priorität haben könnte, die Region „minderversorgt“ werden könnte. Wer helfen will, sollte am besten Geld spenden, rät Wilk – und empfiehlt die Organisation „Medico international“. Die Hilfe müsse gut organisiert sein, die Transportsituation sei schwierig. „Es braucht professionelle Hilfe durch Profis.“ Der Notarzt selbst wird wohl erst im Laufe des Jahres wieder in den Nordosten Syriens reisen. Außer, betont er, ihn erreiche schon vorher ein Hilfsaufruf der Regionalverwaltung. „Dann würde ich fahren.“

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Auch Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD) ruft zum Spenden für die Opfer der Erdbeben auf und appelliert an alle, sich solidarisch mit den Wiesbadenern zu zeigen, die Verwandte und Freunde in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten haben. Er dankt den Einsatzkräften, die sich auf den Weg gemacht haben.