Selbsthilfe in Rheinhessen: „Experience“, eine Gruppe für PTBS-Betroffene, setzt auf gemeinsame Unternehmungen
Von Denise Frommeyer
Stellvertretende Redaktionsleiterin Mainz
Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe „Experience“ planen jeden Monat Ausflüge oder Wanderungen. Foto: Brodlicht Fotografie
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MAINZ - Plötzlich geht nichts mehr. Panik. Gehirn im Notfallmodus. Einschneidende Bilder vor Augen. Geräusche im Ohr. Nicht mehr fähig, irgendetwas zu tun. Wer unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet, zieht sich häufig zurück, möchte niemanden sehen, funktioniert einfach. Der Bezug zur Realität geht verloren, Vereinsamung und Depressionen können die Folgen sein. Zunächst ist PTBS eine ganz normale Reaktion – Krieg, Unfälle, Extremsituationen, Gewalt können dazu führen. Nicht bei jedem, nicht sofort, oft erst nach Monaten oder Jahren.
So mancher sehnt sich danach, verstanden zu werden und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Während andere Selbsthilfegruppen sich treffen, um ihre Erkrankungen zu besprechen, sich darüber auszutauschen, läuft es bei „Experience“ anders. Einmal pro Monat trifft sich die Gruppe, bei der Betroffene aus ganz Rheinhessen willkommen sind, in der Mainzer Kontakt- und Informationsstelle (KISS) in der Parcusstraße.
Niemand redet über die Traumata
„Die erste Regel hier ist, dass niemand über die Traumata spricht“, sagt Diana. „Trauma-Patienten sind sehr kompliziert. Das Risiko, es mit einer falschen Aussage oder einer Handlung noch schlimmer zu machen, ist einfach zu groß.“ Das Vertrauen zu anderen Menschen sei gestört und auch die Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen nehme zu, erklärt sie. „Dass wir nicht darüber reden ist essentiell wichtig: Niemand muss sich erklären.“ Und: „Alles, was in der Gruppe besprochen wird, bleibt auch dort.“
DIE REIHE
In loser Reihenfolge stellen wir an dieser Stelle in den kommenden Wochen Selbsthilfegruppen in Rheinhessen vor, sprechen mit Erkrankten, mit Angehörigen und Experten.
Sie würden sich auch gerne mit Menschen austauschen, die ähnliche Symptome und Krankheiten haben wie Sie? Hilfe und Ansprechpartner finden Sie in Rheinhessen unter anderem in der Kontakt- und Informationsstelle Mainz, Telefon 06131-21 07 72 oder unter www.kiss-mainz.de.
Die Gruppe „Experience“ trifft sich an jedem zweiten Donnerstag im Monat. Das Treffen findet von 18 bis 20 Uhr im KISS Mainz, Parcusstraße 8, statt. Die Organisatoren sind per E-Mail an experience.mainz@gmail.com erreichbar.
Die Erkrankung
Psychotherapeut Dr. Martin Ohly erklärt die Erkrankung wie folgt: „Im Gehirn eines PTBS-Patienten kommt es zu einem permanenten falschen Alarm, das heißt, es kommt zu einer Schreckreaktion mit Aktivierung der Stresshormone Adrenalin und Cortisol. Die belastenden Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis können im Gehirn nicht endgültig in der Hirnrinde abgespeichert werden. Sie bleiben zwischen den Gehirnregionen Amygdala und Hippocampus hängen, wodurch die Erinnerungen mit Ängsten besetzt bleiben und immer wieder im Bewusstsein aufpoppen.“
Die Betroffenen haben Albträume, Flashbacks, Unruhe, starke Anspannung, Ängste, auch ein Gefühl von Leere. Sie können nicht mehr an den Ort des belastenden Ereignisses, würden das nicht aushalten. Ursache sind ein oder mehrere lebensbedrohliche Ereignisse, die jemand erlebt hat, wie schwere Unfälle, Gewalttaten, Kriegseinsätze, sexuelle Gewalt, Entführungen, auch Naturkatastrophen.
Gemeinsam mit James gründete sie vor einem halben Jahr diese Gruppe, die mittlerweile 18 Mitglieder hat. „Wir wollen etwas tun, gehen raus, machen Ausflüge. Bei den Treffen klären wir dann ab, was wir machen möchten.“ Feste Termine, eine feste Gruppe – das alles hilft Trauma-Patienten einen eigenen Tagesrhythmus zu finden, Kontrolle zu bekommen, Ängste zu überwinden. Und auch die Konzentrations- und Merkfähigkeit werde geschult, sagt Sebastian. Ziel sei es auch, die Menschen aus ihrer Isolation, der Passivität zu holen. „Das Leben soll sich nicht nur um das Trauma drehen“, sagt Diana.
Die Aktivitäten reichen von Wanderungen über Bogenschießen, Kanu fahren bis zum Reiten. Zudem plant die Gruppe für das nächste Jahr eine siebentägige Expeditionsreise durch den Wald, die die Betroffenen gemeinsam mit einem Experten-Team organisieren. „Vorab machen wir dazu auch einige Fortbildungen, zum Beispiel in Erste Hilfe und Überlebenstechniken. Außerdem soll es ein paar Rucksacktouren geben, damit sich die Teilnehmer an die Gegebenheiten gewöhnen“, erklärt Diana. Für diese Idee ist „Experience“ sogar von der IKK Südwest ausgezeichnet worden und erhält eine Projektförderung.
So schön das Unterwegssein ist – die Gruppe muss auch immer für den Ernstfall gerüstet sein. „Wir haben immer einen sogenannten Skills-Koffer dabei“, erklärt Diana. „Darin sind zum Beispiel Ammoniak-Ampullen, Stressbälle, Kaugummi – alles, um denjenigen wieder in die Realität zurückzuholen.“ Diana und ihrem Organisationsteam ist es wichtig, dass sich alle wohlfühlen. Niemand werde aber zu etwas gezwungen. „Wenn jemand nicht mehr kann, kann er sich einfach zurückziehen, ohne dass jemand nachfragt.“
Eine Traumafolgestörung zu erkennen, ist allerdings etwas schwierig. „Wenn ein Angehöriger sehr verschlossen oder verstört wirkt, wenn er manchmal wie weggetreten und nicht ansprechbar wirkt, dann deutet das auf eine Traumafolgestörung hin“, sagt der Psychotherapeut Dr. Martin Ohly. Klarer werde das Ganze, wenn dies nach einem belastenden Ereignis auftritt. „Aber es ist auch möglich, dass belastende Erinnerungen, die Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen, wieder aufgewühlt werden.“
Er rät Menschen, die glauben an PTBS erkrankt zu sein, sich ärztliche Hilfe zu suchen, um eine genaue Diagnose zu bekommen. „Auch der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist hilfreich. Der Austausch mit anderen Betroffenen hilft aus dem Gefühl von Isolierung von den Mitmenschen heraus.“