Nach Schüssen in Hanau: Offenbar rechtsextremer Hintergrund

Polizeibeamte stehen an einem Tatort im Hanauer Stadtteil Kesselstadt. Bei Schüssen an zwei Shisha-Bars in Hanau wurden mehrere Menschen getötet und weitere verletzt. Der Täter und seine Mutter wurden danach tot aufgefunden. Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt.  Foto: Boris Roessler/dpa

Elf Menschen sind bei einem Terroranschlag in Hanau getötet worden, darunter auch der mutmaßliche Täter. Mittlerweile ist ein Bekennerschreiben des Mannes aufgetaucht.

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HANAU. Bei einem Terroranschlag im hessischen Hanau sind zehn Menschen getötet worden, auch der mutmaßliche Täter ist nach Angaben der Ermittler tot. Stunden nach dem Verbrechen an zwei unterschiedlichen Tatorten mit neun Toten entdeckte die Polizei die Leiche des 43-jährigen mutmaßlichen Todesschützen in seiner Wohnung in Hanau - dort fanden Spezialkräfte noch eine weitere tote Person, bei der es sich um die 72-jährige Mutter des Mannes handelt. Insgesamt kamen damit elf Menschen am Mittwochabend und in der Nacht zum Donnerstag ums Leben, einer wurde schwer verletzt, mehrere andere verletzt. Die genauen Hintergründe für die außergewöhnliche Gewalttat sind unklar. Mittlerweile sind ein Bekennerschreiben und ein Video aufgetaucht. Der Täter habe in einem Imbiss auf türkische Gäste geschossen, berichten türkische Medien.

Nach Informationen dieser Zeitung handelt es sich bei dem mutmaßlichen Täter um Tobias R. aus Hanau. Es ist davon auszugehen, dass die Tat einen rechtsextremen Hintergrund hat. Bislang ist R. nicht als Rechtsextremer in Erscheinung getreten. Bei der toten Person, die neben R. gefunden wurde, handelt es sich offenbar um seine 72 Jahre alte Mutter. Sie hat eine Schussverletzung. Es wird spekuliert, dass es sich um einen erweiterten Suizid handelt. Der Generalbundesanwalt hat bereits in der Nacht die Ermittlungen wegen des besonderen Bedeutung des Falls übernommen. "Er stuft das Verbrechen als Verdacht einer terroristischen Gewalttat ein", sagte Innenminister Peter Beuth.

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Die Spurensicherung geht in Richtung des Tatorts am Heumarkt.
Ein Auto ist mit Thermofolie abgedeckt, neben dem Wagen liegen Glassplitter und eine Jacke, der Tatort ist mit Polizei-Band abgesperrt.
Forensiker arbeiten an einem Tatort in Hanau-Kesselstadt an einem Mercedes.
Forensiker arbeiten an einem Tatort in Hanau-Kesselstadt an einem Mercedes.
Ein Projektil liegt in unmittelbarer Nähe des Tatorts am Heumarkt.
Polizei und Rettungskräfte sind im Stadtteil Heumarkt im Einsatz.
SEK-Beamte sind in der Nähe eines Tatorts im Einsatz.
Ein Polizist sichert einen Bereich in unmittelbarer Nähe des Tatorts am Heumarkt. Durch Schüsse sind im hessischen Hanau mehrere Menschen getötet worden.
Polizeibeamter stehen an einem Tatort im Hanauer Stadtteil Kesselstadt.
Zwei Polizisten und die Spurensicherung stehen am Tatort im Stadtteil Kesselstadt. Bei Schüssen an zwei Shisha-Bars wurden mehrer Menschen getötet und verletzt. Der mutmaßliche Täter und seine Mutter wurden danach tot aufgefunden.
Zwei Polizisten und die Spurensicherung stehen am Tatort im Stadtteil Kesselstadt. Bei Schüssen an zwei Shisha-Bars wurden mehrer Menschen getötet und verletzt. Der mutmaßliche Täter und seine Mutter wurden danach tot aufgefunden.
Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung steht an einem Tatort im Hanauer Stadtteil Kesselstadt.

Lambrecht und Bouffier zu Hanau

Der Mann habe wohl allein gehandelt. "Bislang liegen keine Hinweise auf weitere Täter vor." Beuth verurteilte die Tat: "Es ist ein Anschlag auf unsere freie und friedliche Gesellschaft." Der mutmaßliche Täter - nach ersten Erkenntnissen ein Sportschütze, der die Waffen legal besessen hatte - sei zuvor nicht im Visier der Ermittler gewesen. Er sei weder als "fremdenfeindlich" bekannt gewesen noch polizeilich in Erscheinung getreten.

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Im folgenden Video sehen Sie, wo genau Hanau liegt. Außerdem sind die beiden Tatorte visualisiert.

In seinem Statement hat sich Beuth nicht zu den Opfern äußern wollen, unter denen auch ein Bekannter des Grünen-Landtagsabgeordneten Taylan Burcu ist. Er bestätigte, dass es sich dabei um eine kurdischstämmigen Mann handelt. Wie die Deutsche Presse-Agentur aus Sicherheitskreisen erfuhr, sind unter den Todesopfern viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Generalbundesanwalt sieht "zutiefst rassistische Gesinnung"

Die Bundesanwaltschaft sah am Donnerstagnachmittag "gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund der Tat". "Diese ergeben sich aus den augenscheinlich von Tobias R. herrührenden Videos und Dokumenten", teilte die Bundesanwaltschaft am Donnerstag in Karlsruhe mit. Derzeit gäbe es keine Erkenntnisse zu etwaigen Vorstrafen oder Ermittlungen mit politischem Bezug gegen den mutmaßlichen Täter.

Generalbundesanwalt Peter Frank sprach von einer "zutiefst rassistischen Gesinnung" des 43 Jahre alten deutschen Staatsangehörigen aus Hanau. Dieser hat nach vorläufigen Erkenntnissen am Mittwochabend im der hessischen Stadt in zwei Shisha-Bars neun Menschen erschossen. Unter den Getöteten zwischen 21 und 44 Jahren waren sowohl ausländische als auch deutsche Staatsangehörige.

Unser Reporter Frederik Voss berichtet live von einem der Tatorte in Hanau:

Der mutmaßliche Täter von Hanau hat nach Informationen aus Sicherheitskreisen wenige Tage vor der Tat ein Video bei Youtube veröffentlicht. In diesem Video spricht der Mann in fließendem Englisch von einer "persönlichen Botschaft an alle Amerikaner". Der Clip, der am Donnerstagmorgen weiter im Internet zu sehen war, wurde offensichtlich in einer Privatwohnung aufgenommen, ins Netz gestellt wurde er vor wenigen Tagen. Darin sagt der Mann, in den USA existierten unterirdische Militäreinrichtungen, in denen Kinder misshandelt und getötet würden. Dort würde auch dem Teufel gehuldigt. Amerikanische Staatsbürger sollten aufwachen und gegen diese Zustände "jetzt kämpfen". Ein Hinweis auf eine bevorstehende eigene Gewalttat in Deutschland ist in dem Video nicht enthalten. Das Motiv des Verbrechens mit insgesamt elf Toten blieb zunächst unklar.

Der hessische Landtag hat wegen der Ereignisse in Hanau seine Plenarsitzung am Donnerstag abgesagt. Nachdem Innenminister Peter Beuth die Abgeordneten im Plenarsaal über den Ermittlungsstand in Hanau informiert hatte, wurde die Sitzung nicht fortgesetzt. Sie soll voraussichtlich bei der nächsten Plenarsitzung im März nachgeholt werden. „Unter dem Eindruck der unfassbaren Tat haben sich die Fraktionen einvernehmlich darauf verständigt, dass es aus Respekt vor den Opfern nicht angemessen wäre, die Sitzung wie geplant abzuhalten“, sagte der amtierende Sitzungspräsident Frank Lortz.

Die ersten Schüsse fielen gegen 22 Uhr

Die ersten Schüsse fielen den Ermittlern zufolge gegen 22 Uhr. Am Heumarkt in der Hanauer Innenstadt blicken Passanten später in der Nacht immer wieder fassungslos auf die Szenerie am abgesperrten Tatort. Nicht weit entfernt in einer Seitenstraße liegen Patronenhülsen auf dem Fußweg, auch hier ist noch unklar, was genau passiert ist.

Nur rund zwei Kilometer davon entfernt im Stadtteil Kesselstadt befindet sich ein weiterer Tatort. Dort wurden ebenfalls Schüsse abgefeuert. Eine mögliche dritte Schießerei im Stadtteil Lamboy bestätigte sich nicht. Die Polizei war aber auch dort mit einem Großaufgebot vor Ort.

Später in der Nacht kreist ein Polizeihubschrauber über Hanau. Die Informationen fließen nur spärlich. Von der Polizei heißt es nur, vom Tatort Heumarkt sei ein dunkles Fahrzeug davongefahren. Es ist ein Verbrechen, das die beschauliche und nur wenige Kilometer östlich von Frankfurt gelegene Stadt in ihrer jüngeren Geschichte noch nicht erlebt hat. Einer der Tatorte ist eine Shisha-Bar am Heumarkt, einer Straße, die etwas am Rande der Innenstadt von Hanau mit seinen rund 100.000 Einwohnern liegt. Es ist keine schmucke Gegend, Spielhallen, Wettlokale und Döner-Imbissbuden prägen das Straßenbild - und am späten Mittwochabend auch Polizeisirenen, Blaulicht und Absperrband.

Die Polizei fordert Passanten und Schaulustige auf, den Bereich zu verlassen. Beamte mit Maschinenpistolen sichern die Umgebung ab. Menschen stehen in der Nähe der mit Flatterband abgesperrten Bereiche und weinen. In der Gegend kurven wuchtige Sportkarossen umher.

Männer versammeln sich in mehreren Grüppchen nahe der Absperrungen. Die Stimmung pendelt zwischen Entsetzen, Sprachlosigkeit und Wut. Eine laut wehklagende Frau wird von Sanitätern in ein nahe gelegenes Hotel gebracht. Dort sitzen später im Frühstücksraum noch weitere Frauen versammelt, mit Tränen in den Augen. Die Nachricht von den Schüssen hat sich wie ein Lauffeuer über die Sozialen Medien verbreitet. Anwohner posten mutmaßliche Videos vom Tatort, offenbar kurz nach der Tat aufgenommen.

Der zweite Tatort ist fast in Laufnähe, mit dem Auto sind es bis dahin nur etwa fünf Minuten. Der Kurt-Schumacher-Platz liegt in einem Wohnviertel. Dort befindet sich im Erdgeschoss eines Wohnblocks eine Art Kiosk, mit der Aufschrift "24/7 Kiosk" auf der großen Glasscheibe, auf einem Reklame-Leuchtschild steht "Arena Bar & Café". Der Blick ins Innere ist versperrt, die Scheiben sind teils halbhoch mit orangefarbener Folie beklebt.

Auf dem Platz vor dem Café steht eine beschädigte Limousine, die Frontscheiben sind zum großen Teil mit Rettungsdecken abgedeckt. Später, die Spurensicherung läuft schon längst, wird ein Feuerwehrzelt, das auch als Sichtschutz dient, um das Auto herum aufgebaut. Auch hier hat die Polizei die Gegend weiträumig gesichert, ein schwer bewaffneter Beamter steht dabei. Immer wieder fahren Einsatzwagen der Polizei zum Tatort, auch Krankenwagen fahren durch. Während tief in der Nacht unten auf dem Parkplatz die Spurensicherung läuft, sind manche Fenster in dem neunstöckigen Gebäude noch erleuchtet. Hier und da flimmert ein Fernseher.

Nur wenige Menschen sind hier in der Nacht noch unterwegs, einige kommen aber bis an das Absperrband der Polizei. Sie seien Freunde oder Angehörige von den Opfern, berichten sie. Unter ihnen ist auch ein 24-Jähriger, der nach eigenen Angaben der Sohn des Kioskbesitzers ist. Er sei bei der Tat nicht vor Ort gewesen, sein Vater auch nicht, wie er erst später erfahren habe. Als er von den Schüssen gehört habe, sei er sofort hergekommen. "Ich habe erstmal einen Schock bekommen." Die Opfer seien Leute, "die wir jahrelang kennen". Es seien zwei Mitarbeiter und eine Person, die er schon von klein auf kenne. Wer verübt solch ein Verbrechen? Der 24-Jährige ist ratlos: "Wir kennen sowas nicht, wir sind auch nicht mit Leuten zerstritten. Wir können es uns gar nicht vorstellen. Es war ein Schock für alle."

Der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) zeigt sich in einer Sondersendung von "Bild live" erschüttert über die Gewalttaten. "Das war ein furchtbarer Abend, der wird uns sicherlich noch lange, lange beschäftigen und in trauriger Erinnerung bleiben." Die Hanauer Bundestagsabgeordnete Katja Leikert (CDU) sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Ich bin erschüttert darüber, was passiert ist." Auf Twitter schrieb sie: "In dieser fürchterlichen Nacht in Hanau wünsche ich den Angehörigen der Getöteten viel Kraft und herzliches Beileid." Und: "Den Verletzten eine hoffentlich schnelle Genesung. Es ist ein echtes Horrorszenario für uns alle. Danke an alle Einsatzkräfte!!"

Der Terrorismus-Experte Peter Neumann geht davon aus, dass der Täter hinter der offenbar rechtsradikalen Gewalttat von Hanau aus der Reichsbürger-Szene stammt. „Es weist viel auf die Reichsbürgerbewegung hin“, sagte Neumann in einer Livesendung der „Bild“ und verwies auf Bemerkungen zu Geheimdiensten und Gehirn-Manipulation im Bekennerschreiben des vermeintlichen Täters sowie auf „teilweise widersprüchliche Verschwörungstheorien“.

Mit Blick auf das schriftliche Dokument stellte Neumann außerdem fest: „Ich würde das Schreiben als Manifest beschreiben. Es ist 24 Seiten lang, es ist sehr wirr in Strecken, es werden viele Verschwörungstheorien artikuliert. Aber das was politisch drin ist, das ist vor allem rechts. Das dürfte uns eigentlich auch nicht überraschen, dieses Muster haben wir in der Vergangenheit, zum Beispiel in Halle, gesehen aber auch im Ausland – El Paso, in Neuseeland, in anderen Orten – wo sich Menschen aus dem Internet eine Ideologie zusammengebastelt haben.“

Große Bedeutung misst Neumann in diesem Kontext dem Internet bei: „Da passiert viel, was nur durch das Internet erklärt werden kann. Also die Art, wie man sich aus den unterschiedlichsten, teilweise widersprüchlichen Verschwörungstheorien eine für sich stimmige Welt sich zusammenbauen kann, aufgrund derer man dann elf Menschen umbringt – das ist, glaube ich, nur durch das Internet möglich. Das wäre vor 40 oder 50 Jahren ganz schwer vorstellbar gewesen.“ Dass es sich um rechten Terror handelt, darauf würde er sich „aktuell schon festlegen“.

Im Video: Mahnwache in Hanau