Mainzer Forscher: 8,8 Millionen Feinstaub-Tote im Jahr

Professor Thomas Münzel (links) ist Direktor am Kardiologischen Zentrum der Universitätsklinik Mainz. Professor Jos Lelieveld (rechts) leitet als Direktor am MPIC die Abteilung für Chemie der Atmosphäre. Fotos: Peter Pulkowski / MPG-Thomas Hartmann
© Fotos: Peter Pulkowski / MPG-Thomas Hartmann

Wissenschaftler des Mainzer Max-Planck-Instituts und der Universitätsmedizin schlagen Alarm: Die Todeszahlen durch Luftverschmutzung sind viel höher als bisher angenommen.

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MAINZ. Wissenschaftler des Mainzer Max-Planck-Instituts für Chemie (MPIC) und der Universitätsmedizin schlagen Alarm: Die Todeszahlen durch Luftverschmutzung sind weltweit und auch in Deutschland weitaus höher als bisher angenommen. Das MPIC hat die bisher gültige Zahl von 4,5 Millionen Toten im Jahr auf 8,8 Millionen nach oben korrigiert. Damit ist Luftverschmutzung vor allem durch Feinstaub gefährlicher als das Rauchen. Die gemeinsame Studie von MPIC und dem Kardiologischen Zentrum der Unimedizin, die heute in der online-Ausgabe des renommierten „European Heart Journal“ veröffentlicht wird, thematisiert nicht nur das hohe Sterblichkeitsrisiko, sondern auch Herzkreislauf- und Gefäßerkrankungen als hauptsächliche und oft tödliche Folge. Gegenüber dem Stickstoffdioxid, das die Dieseldebatte ausgelöst, sei der Feinstaub unterschätzt.

Grenzwerte müssen verschärft werden

Professor Jos Lelieveld, Direktor am MPIC und als Leiter der Abteilung für Chemie der Atmosphäre Nachfolger von Nobelpreisträger Paul Crutzen, sowie Professor Thomas Münzel, Direktor am Kardiologischen Zentrum, sind überzeugt: Die tödliche Gefahr von Feinstaub werde unterschätzt sowohl beim Grenzwert der Luftbelastung durch Feinstaub als auch in den medizinischen Leitlinien. „Die Grenzwerte für Feinstaub sind in Europa zweieinhalbmal höher als die von der WHO geforderten zehn Mikrogramm“, so Lelieveld, „das muss sich ändern.“ Und auch Münzel weiß, was sich ändern muss: „Es ist ein Unding, dass Feinstaub als Verursacher von Herzkreislauferkrankungen in den Leitlinien bislang nur beiläufig erwähnt wird.“

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Die bisher weltweit gültigen Zahlen zum Sterblichkeitsrisiko durch Luftverschmutzung stammen vom US-Projekt Global Burden of Disease (GBD) von Harvard University, Weltbank und Weltgesundheitsorganisation (WHO), das weltweit Ursachen für Krankheiten und Sterblichkeit untersucht. „Das GBD hat vor vier Jahren dieselben Studien genutzt wie wir, allerdings ist seither die Datenbasis erheblich gewachsen.“ Deshalb habe sich das MPIC entschlossen, eine Neuberechnung vorzunehmen, die eine Verdoppelung des Sterblichkeitsrisikos zum Ergebnis hatte. Von den 8,8 Millionen Toten entfallen 790000 auf Europa und 120000 auf Deutschland – auch hier doppelt so viele wie bisher angenommen.

Hauptverursacher ist Verbrennung fossiler Energie und Massentierhaltung

Die Verantwortlichen des GBD hätten positiv auf die Mainzer Studie reagiert, so Professor Lelieveld, und werden ebenso Neuberechnungen durchführen. Überhaupt sei die Studie sehr genau überprüft worden, so Professor Münzel: „Bevor sie vom European Heart Journal überhaupt angenommen wurde, durchlief sie zehn Gutachten, das ist außerordentlich viel.“ Die Prüfer nehmen dabei Datenmaterial und Methodik genau unter die Lupe. „Wir mussten hunderte Fragen beantworten.“

Hauptverursacher der Feinstaubbelastung sind laut Lelieveld die Verbrennung fossiler Energie in Verkehr, Energiegewinnung und Industrie sowie die Massentierhaltung in der Landwirtschaft. Dort werde durch Gülle und Dünger Ammoniak freigesetzt, das sich in der Atmosphäre mit anderen Stoffen verbinde und wesentlich zur Feinstaubbildung beitrage.

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2,5 Mikrometer feine Partikel

Am Kardiologischen Zentrum der Unimedizin wird unter Leitung von Professor Thomas Münzel schon seit Jahren die schädliche Wirkung von Lärm auf Herz und Gefäße untersucht und in jüngerer Zeit auch der tödliche Effekt von Feinstaub. „Eine Zusammenarbeit mit Professor Lelieveld war naheliegend und er hat auch sofort zugestimmt“, so Münzel. Kooperationen wie diese seien aber noch viel zu selten.

Die weniger als 2,5 Mikrometer messenden Feinstaub-Teilchen gehören neben Rauchen, Bluthochdruck, Blutfett und Diabetes zu den Hauptursachen von Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen und bedingen mit die hohe Sterblichkeit durch schlechte Luft. „Eingeatmeter Feinstaub gelangt direkt ins Hirn und löst etwa gefährlichen Bluthochdruck aus, kommt aber auch in Lunge und Gefäße“, so Münzel. In der Lunge kann es zu chronischen Entzündungen kommen, ebenso in den Gefäßen. „Der Feinstaub wirkt hier wie Cholesterin, die Folge ist ebenfalls Arteriosklerose.“ Bei Menschen mit entsprechenden Vorerkrankungen erhöht sich das Sterblichkeitsrisiko also deutlich.

Holzofenfeuerung teils gravierender als Autoverkehr

Gegenüber der hochemotional geführten Debatte um Stickstoffdioxid und Dieselfahrverbote sehen die Forscher die Feinstaubproblematik als deutlich unterbewertet an. Nicht nur in der Politik. So sei das Problem der Holzofenfeuerung teils gravierender als Autoverkehr, hätten Messungen in Einfamilienhausvierteln mit Kaminfeuerung höhere Werte als an Hauptstraßen ergeben. Und was die Belastung durch den Verkehr angeht, sagt Münzel: „Alle stürzen sich auf den Diesel, Feinstaub wird aber auch vom Benziner produziert.“

Studien aus der Kardiologie belegen, dass Dieselabgase Gefäßfunktionsstörungen auslösen, die durch Feinstaubfilter aber komplett aufgehoben werden können. Zudem zeigen Untersuchungen, dass Stickstoffdioxid-Inhalationen die Gefäßfunktion nicht negativ beeinflussen. Das heißt, so Münzel, dass primär der Feinstaub für die Entwicklung von Herzkreislauferkrankungen verantwortlich ist und nicht das NO2, das allerdings Asthmatiker belaste, vor allem bei Kindern.

Luftverschmutzung und Lärm verstärken sich gegenseitig

Dass eine Absenkung der Grenzwerte den Individualverkehr treffen würde, sei klar, aber Lelieveld schränkt ein: „Es geht ja nicht darum, das von heute auf morgen umzusetzen, man muss den Menschen auch Zeit geben.“ Allerdings sei es wichtig, dies als Ziel zu formulieren.

Die Belastung einer Stadt wie Mainz sei problematisch, da zu der vielfältigen Form der Luftverschmutzung, die durch den Wind auch aus weiter entfernten Gegenden importiert werde, noch Lärm komme, vor allem der Fluglärm. „Beide Emissionen verstärken sich gegenseitig und erhöhen die Gefahr einer Herz-Kreislauf-Erkrankung“, so Professor Münzel. An der Kardiologie startet man derzeit mit einer weltweit einmaligen Untersuchungseinrichtung die Erforschung der Folgen einer gemeinsamen Belastung durch Feinstaub und Lärm.