In Oppenheim wurde der Verein gegründet und die ersten Instruktoren geschult. Er will Delikte gegen Rettungskräfte aus dem Dunkelfeld holen – dafür braucht er einen langen Atem.
Von Ulrich Gerecke
Reporter Politikredaktion
Hilfe statt Hiebe: Frank Dernbach, Andreas Schnür und Jörg Steinheimer (von links) werben um Verständnis.
(Foto: Ulrich Gerecke)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
VG RHEIN-SELZ - Wenn Andreas Schnür von seinem Beruf spricht, dann berichtet er von vielen Momenten, in denen er „Dankbarkeit und Genugtuung“ verspürt. Schnür arbeitet für das Rote Kreuz, er ist oft der erste Mann beim Opfer, der versorgt, hilft, manchmal rettet in höchster Not. Dass so jemandem Sympathien entgegenschlagen, ist eigentlich selbstverständlich. Oder nicht?
Schnür kann auch andere Dinge erzählen. „Vor Kurzem habe ich einen Patienten auf die Trage umgelagert, da hat er mich angespuckt. Einfach so.“ An einem anderen Einsatzort hatte er mit einer Notärztin ein Opfer aus einem Hochhaus geholt. „Als wir rausgingen, hat ein Gaffer aus dem Fenster seine Zigarettenkippe auf uns geworfen.“
Frank Dernbach, ebenfalls beim DRK beschäftigt, berichtet von ähnlichen Erlebnissen: „Ich habe mal richtig Schläge bekommen von einem Patienten, der unter Drogeneinfluss stand.“ Auf die verbalen Engleistungen, die beide in Ausübung ihrer Tätigkeit zu hören bekommen, reagieren sie schon gar nicht mehr. „Das ist Alltag“, sagt Schnür achselzuckend. Für das ständige Filmen gilt dasselbe. „Wenn es spektakulär aussieht, ist sofort das Handy draußen“, weiß Dernbach. Auch das hält er für eine Form von Gewalt.
Hilfe statt Hiebe: Frank Dernbach, Andreas Schnür und Jörg Steinheimer (von links) werben um Verständnis. Foto: Ulrich Gerecke
Der Verein "Helfer sind tabu" setzt sich dafür ein, dass Gewalt gegen Helfer gesellschaftlich geächtet wird. Helfer sind Tabu e.V. /Philipp Koehler
Hilfe statt Hiebe: Frank Dernbach, Andreas Schnür und Jörg Steinheimer (von links) werben um Verständnis. Foto: Ulrich Gerecke
Foto:
4
Weil sich Vorfälle dieser Art dramatisch gehäuft haben, hat sich vor einem Jahr in Rheinhessen der Verein „Helfer sind tabu!“ gegründet. Er will Hilfskräfte schützen, die Öffentlichkeit aufrütteln, Gewalt gegen Helfer aus dem Dunkelfeld holen. „Jede Gewalttat ist eine zu viel“, sagt Jörg Steinheimer, in Oppenheim lebender Geschäftsführer des DRK-Rettungsdienstes Rheinhessen-Nahe. Deshalb hatte seine Organisation vor einem Jahr den Anstoß für die Vereinsgründung gegeben. Mittlerweile hat er rund 50 Mitglieder.
Ebenfalls in Oppenheim wurden damals Instruktoren geschult. Kollegen wie Dernbach, die unter Anleitung eines Psychologen Einsatztechniken lernten wie Deeskalation, Auftreten, aber auch Selbstverteidigung. „Das war aber nur ein Aspekt, schließlich ist Gewalt für uns Helfer ein No-Go“, versichert Dernbach, der als einer von 13 Instruktoren sein Wissen nach dem Schneeballprinzip weitergeben soll. „Ich finde es beruhigend, im Notfall eine Strategie zu haben.“ Wichtiger aber sei, präventiv zu agieren und dies anderen zu erklären: „Wie trete ich deeskalierend auf? Wie achte ich auf meine Körpersprache? Viele Übeltäter können wir nicht bekehren, aber wir können die Situation entschärfen.“
Früher wurden betroffene Kollegen oftmals allein gelassen
Das richtige Verhalten am Einsatzort ist das eine, was „Helfer sind tabu!“ vermitteln will. Das andere ist die Signalwirkung nach innen und außen sowie ganz konkret die Beantwortung der Frage, wie viele Fälle von Gewalt gegen Helfer es überhaupt gibt. „Statistisch hat die Zahl zugenommen, aber das hat auch mit erhöhter Sensibiliät zu tun“, meint Steinheimer. Ältere Kollegen erzählten ihm, Exzesse seien auch schon vor 30 Jahren passiert. „Aber da hat man die betroffenen Kollegen zu oft allein gelassen.“
Um diese Dunkelziffer ans Licht zu bringen, hat der Verein ein Online-Formular entwickelt, in dem Helfer Vorfälle dokumentieren und direkt zur Anzeige bringen können. Orientiert hat sich der Verein dabei an der Polizei, die damit viel mehr Erfahrung hat, aber aus juristischen Gründen nicht selbst als Institution bei „Helfer sind tabu!“ dabei sein kann. Immerhin: Der Mainzer Polizeipräsident Reiner Hamm ist Mitglied im Beirat, steht den Mitstreitern von DRK, THW und anderen Hilfsorganisationen „moralisch“ zur Seite. „Der Verwaltungsaufwand für das Formular ist minimal, die Polizei kann reagieren und wir bringen Fälle ans Licht, die bisher nicht dokumentiert wurden“, sagt Steinheimer. Das Tool ist fertig programmiert, jetzt muss es noch finanziert werden – auch dafür sammelt „Helfer sind tabu“ Spenden.
Für die Rettungskräfte, die tagtäglich an der Front arbeiten, wäre so ein Hilfsmittel schon ein Fortschritt. Dass die Ursachen von Ausrastern gegen Helfer, die meistens unter Alkoholeinfluss passieren, viel tiefer liegen, ist Dernbach und Schnür bewusst. „Rücksichtnahme, Anstand und gesunder Menschenverstand haben nachgelassen“, konstatiert Frank Dernbach. Schnür hat beobachtet: „In der Stadt ist die Hemmschwelle noch viel weiter zurückgegangen als auf dem Land, da werden die Leute immer schneller handgreiflich.“ Vielleicht liege das auch daran, dass DRK & Co. von vielen als „böse“ Staatsmacht angesehen werden, „weil wir auch mit Blaulicht kommen“. Bei anderen, meint Steinheimer, sei herablassendes Anspruchsdenken im Spiel: „Die sagen: Wir zahlen Kassenbeiträge, also kommt gefälligst. Und zwar flott.“
Der Rotkreuz-Geschäftsführer will nichts beschönigen, aber auch nicht übertreiben: „Nicht jeder ist ständig Gewlt ausgesetzt. Wenn wir das zu sehr betonen, will keiner mehr in helfende Berufe gehen.“ Derzeit bilde seine Gesellschaft 16 Notfallsanitäter im Jahr aus. Steinheimer kann dabei aus 250 Bewerbern auswählen, mehr Plätze gibt es nicht, weil in den Kliniken – wo ein Teil der Ausbildung stattfindet – nicht mehr möglich ist. „Wir haben einen Fachkräfte-Engpass“, klagt Steinheimer, „aber unser Berufsfeld ist attraktiv.“ Damit das so bleibt und nicht ein paar Rüpel die Momente der Dankbarkeit und Genugtuung zerstören, von denen Andreas Schnür schwärmt – auch dafür wurde „Helfer sind tabu!“ gegründet.