OPPENHEIM/NIERSTEIN - „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.“ Mit diesem Satz, der einen TV-Mann zur Legende machte, könnte auch Kerstin Schmidt hausieren gehen. Die Architektin verbaut gerade zwischen Mainz und Guntersblum 27 Millionen Euro, doch wahnsinnig viel wird man am Ende davon nicht mit bloßem Auge wahrnehmen. Ein zweigeschossiges Haus neben dem Bahnübergang am Sironabad in Nierstein und ein kleines Trafohäuschen bei Bodenheim – der Rest ist unter der Erde. „Diese Elektronik ist sehr aufwendig“, beschreibt Schmidt ihr Werk, „aber wenn wir fertig sind, wirkt sie eher unspektakulär.“
20 Kilometer Kabel, 27 Millionen Euro Kosten
Das Projekt, das Schmidt leitet, heißt bei der Bahn schlicht „ESTW Oppenheim“. ESTW steht für „Elektronisches Stellwerk“, mit den hohen Türmen, die man kennt und die mittlerweile an vielen Gleisen als Industriedenkmäler die Landschaft prägen, hat Schmidts Unterfangen aber nichts mehr zu tun. Es geht um besagten Flachbau in Nierstein und die Außenstelle in Bodenheim, vor allem aber um ganz viel Kabel. Auf einer Strecke von 20 Kilometern zwischen Mainz-Weisenau und Guntersblum wird gleich das ganze elektronische Herz der Bahnstrecke erneuert.
„Wir wollen bis Mitte 2019 fertig sein, wir werden es auf jeden Fall vor 2020 schaffen“, erklärt Schmidt und nimmt damit allen Rheinhessen die Sorge, die parallel zum B 9-Tunnel und der Erneuerung der B 420-Unterführung in Nierstein eine weitere Baustelle befürchten. Die Planung ist abgeschlossen, im August begannen die Erdarbeiten, der Zug rollt sozusagen. Nun soll es nicht nur zügig gehen, es muss sogar zügig gehen. „Jeder Stillstand kostet Geld“, betont Schmidt.
Deshalb wird auch im bevorstehenden Winter gebaut, so lange das Wetter es zulässt. Viele Arbeiten passieren in Nachtpausen, dennoch sind vereinzelte Sperrungen im Tagesgeschäft unvermeidbar. „Wir haben unseren Bedarf definiert und Sperrpausen zugeteilt bekommen“, berichtet Schmidt. Die Bahn werde alle Zugausfälle oder Verlegungen im Fahrplan zu berücksichtigen versuchen. „Einschränkungen werden auf ein erforderliches Minimum beschränkt, sind jedoch leider nicht komplett auszuschließen.“ Schließlich müsse man die Sicherheit der Arbeiter gewährleisten, die zwischen Mainz und Guntersblum an vielen Engstellen zwischen Gleisbett und Lärmschutzwänden werkeln. Auch die eine oder andere Schwelle wird vorübergehend demontiert. „Das ist mit Lärm und Dreck verbunden, aber das muss man akzeptieren, wenn man eine Verbesserung hinbekommen will.“
„Betriebssicher, aber nicht auf dem neuesten Stand“
Und genau darum geht es der Bahn. Die Stellwerke in Oppenheim, Nierstein und Bodenheim wurden 1954, 1957 und 1963 gebaut. „Die Anlagen sind betriebssicher, entsprechen aber nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik“, sagt Schmidt. Ähnlich wie viele Bahnhofsgebäude werden die alten Stellwerke künftig anderweitig genutzt oder vermietet, aber nicht abgerissen. Geschaltet und gewaltet wird ab 2019 allerdings in der Unterzentrale zwischen Nierstein und Oppenheim. Hier werden mehrere Mitarbeiter vor Schalttafeln den Betrieb kontrollieren, während die Außenstelle Bodenheim als Notposten fungiert.
Neben vielen Kabeln müssen auch 15 Kilometer Kabelkanäle und 130 Schächte neu gelegt werden, 65 Querungen installiert und 65 Signalanlagen eingebaut werden, auch drei Bahnübergänge werden technisch modernisiert. „Es ist ein sehr spezifischer Bereich mit vielen Schnittstellen“, sagt Schmidt. Schließlich läuft über dieses System künftig die gesamte Telekommunikation, die Signalsteuerung, die Stellung der Weichen (die im Winter zuweilen einfrieren) – eigentlich alles.
Dass sich die Deutsche Bahn diese unscheinbar wirkende Technologie so viel Geld kosten lässt, hat gute Gründe: Die Strecke Nummer 3522 zwischen Mainz und Mannheim gilt als eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen im Westen Deutschlands, insbesondere für den internationalen und überregionalen Güterverkehr. Zudem muss sie oft als Ausweichstrecke herhalten. Da ist das Beste gerade gut genug. Auch wenn man am Ende sieht, dass man nichts sieht.