Ingrid Mickler-Becker (links, hier bei der EM 1971) nahm an vier Olympischen Spielen teil und holte zweimal Gold. Seit 1979 lebt sie in Zornheim. Am kommenden Dienstag wird sie 75. Fotos: dpa, hbz/Jörg Henkel
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ZORNHEIM - In ihrem letzten 100-Meter-Rennen lief Ingrid Mickler-Becker 140 Meter. Nicht weil sie wollte, sondern weil sie musste. Es ist das eine Rennen, auf das die Leichtathletin aus Geseke nicht gerne zurückblickt. Auch, wenn am Ende die olympische Goldmedaille mit der 4x100-Meter-Staffel heraussprang. Damals, 1972 in München.
45 Jahre später kann Mickler-Becker, die 1968 zum Studium nach Mainz kam und seitdem für den USC startete, über das Staffelrennen sprechen. Lange Zeit konnte sie das nicht. Denn eigentlich wollte sie dieses Rennen gar nicht laufen. Die gesetzte Startläuferin Elfgard Schittenhelm verzichtete aufgrund von Oberschenkelproblemen. Plötzlich musste die Aufstellung geändert werden. Mickler-Becker, normalerweise Schlussläuferin, sollte an Position zwei laufen. Sie wollte nicht. Einen Staffelstab annehmen und ins Ziel rennen, das konnte sie. Aber mittendrin zu wechseln, hatte sie nicht trainiert. „Ich bin doch nur die Deppin der Nation“, habe sie gedacht. Im Weitsprung war sie ausgeschieden, durch die Spiele im eigenen Land sei der Druck besonders groß gewesen. „Wenn ich das versaue...“, habe sie nur gedacht. Ihre Schlussfolgerung: nicht an Position zwei laufen.
Es folgte eine Auseinandersetzung mit Trainer Wolfgang Thiele. Der drohte damit, Mickler-Becker der Presse auszuliefern. Die Athletin drohte mit Ähnlichem. Der Trainer gewann den Kampf vor dem Start, Mickler-Becker gewann mit der Staffel Gold. Weil Startläuferin Christiane Krause nicht gut genug für die 100 Meter war, reizte die deutsche Mannschaft die Wechselzone bis zum Ende aus. Mickler-Becker nahm den Stab so früh es ging in Empfang. Und sie übergab ihn spätest möglich an Annegret Richter. So kam sie auf 140 Meter. „Einmal und nie wieder“, habe sie gedacht. Als sie die Schuhe auszog, war Schluss. Dass Deutschland durch den Schlussspurt von Heidemarie Ecker-Rosendahl sensationell Gold holte, bekam Mickler-Becker erst gar nicht mit. Sie kümmerte sich um die von Krämpfen geplagte Australierin Raelene Boyle.
Ingrid Mickler-Becker (links, hier bei der EM 1971) nahm an vier Olympischen Spielen teil und holte zweimal Gold. Seit 1979 lebt sie in Zornheim. Am kommenden Dienstag wird sie 75. Fotos: dpa, hbz/Jörg Henkel Foto:
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Über die Geschichte hinter dem Staffellauf habe sie nie gesprochen, weil es „ein Geplänkel am Rande“ gewesen sei. „Und eine Lappalie im Vergleich zum Geiseldrama.“ Wenn Ingrid Mickler-Becker an die Olympischen Spiele in München denkt, kommt ihr nicht zuerst ihre Goldmedaille oder ihr Karriereende in den Sinn. Sie denkt zuerst an die Geiselnahme. „Das Schlimmste, was ich erlebt habe.“ Nachts um zwei sei sie mit der Botschaft ins Bett gegangen, dass die Mitglieder der israelischen Mannschaft, die von palästinensischen Terroristen als Geiseln genommen worden waren, wieder frei seien. „Als wir am nächsten Morgen aufgestanden sind, kam die andere Wahrheit.“ Alle Geiseln waren tot. Dass die Spiele weitergehen sollten, konnte Ingrid Mickler-Becker zuerst nicht verstehen. „Aber es war absolut richtig.“
DIE SERIE
Ob Ringen, Handball, Rudern oder Fußball: In Mainz und Umgebung wurden auch in der Vergangenheit bereits sportliche Erfolge gefeiert.
Dabei haben sich Sportler hervorgetan, die den Menschen bis heute in Erinnerung geblieben sind.
Diese Sportler werden in loser Folge in der Serie „Kennen Sie noch?“ vorgestellt.
Ingrid Mickler-Becker kann auf ein bewegtes Sportlerleben zurückblicken. Vier Olympia-Teilnahmen, zwei Goldmedaillen, Augenzeugin des Dramas von München 1972.
In Erinnerung sind ihr nicht die Medaillen und Rekorde, sondern vor allem die menschlichen Begegnungen geblieben. „Ich lebe nicht in der Vergangenheit. Ich lebe mit ihr“, sagt sie. Auch wenn sie zu Anlässen wie diesen – am kommenden Dienstag wird sie 75 Jahre alt – eben doch etwas mehr von früher erzählen muss. Dann erzählt sie von Montezumas Rache bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968, von ihrem Talent, das den fehlenden Trainingsfleiß mehr als wettmachte, davon, wie sie im Wettstreit mit ihren zwei älteren Brüdern mithalten wollte und wie sie eigentlich am liebsten Fußballerin geworden wäre.
Doch am liebsten erzählt Ingrid Mickler-Becker, die nach ihrem Karriere-Ende als Gymnasial-Lehrerin, Staatssekretärin im Sozialministerium von Rheinland-Pfalz und bis vor zwei Jahren als Personalberaterin arbeitete, eben von den menschlichen Begegnungen in ihrem Leben. Mit Helga Hoffmann, ihrer Konkurrentin von früher, ist sie bis heute eng befreundet. „Die Vergangenheit verbindet uns“, sagt die Wahl-Zornheimerin, „aber wir wälzen sie nicht um.“ Dafür passiert im Alltag zu viel, das es zu besprechen gibt. Langweilig wird Ingrid Mickler-Becker nicht. „Lesen, das Haus, Korrespondenzen, Vorträge vorbereiten“, zählt die 74-Jährige auf, wie sie ihren Alltag verbringt. „Ich genieße es, über meine Zeit zu verfügen.“
In der Freizeit am liebsten auf den Golfplatz
Und wann immer es diese Zeit zulässt, zieht es die Olympiasiegerin auf den Golfplatz. Eigentlich habe sie damit erst anfangen wollen, wenn sie 80 ist, lacht sie. Mittlerweile bereut sie es, nicht früher angefangen zu haben. Als ihr Mann aus beruflichen Gründen in die USA ging und Ingrid Mickler-Becker mit ihm, wagten sie zusammen mit ihrem Sohn einen Versuch. Und hörten bis heute nicht auf. Die Anfänge auf dem Golfplatz erinnern an das Staffelrennen 1972. Sie seien deutlich mehr Meter als nötig gelaufen, erzählt die 74-Jährige. Doch dieses Mal tat sie das, weil sie es wollte. Nicht, weil sie es musste.