Seelentrösterin an der Pforte des „Wendepunkts“

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Margit Braun gibt Tipps, Ratschläge und beantwortet geduldig Fragen aller Art. Foto: hbz/Stefan Sämmer
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Vom Telefondienst bis zur Schlüsselvergabe: Margit Braun hat beim „Wendepunkt“ in Mainz eine ganz besondere Rolle.

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MAINZ. Oma „Schnuff-Schnuff“ hat immer ein offenes Ohr. Sie ist Seelentrösterin und gibt Ratschläge, wenn sie danach gefragt wird. Manchmal kommen die Frauen auch einfach nur zu ihr, um zu erzählen, wie ihr Tag war. Oma „Schnuff-Schnuff“ heißt in Wirklichkeit Margit Braun.

Margit Braun gibt Tipps, Ratschläge und beantwortet geduldig Fragen aller Art. Foto: hbz/Stefan Sämmer

Und Großmutter ist die zweifache Mutter eigentlich auch noch nicht. Den Spitznamen haben ihr die Frauen im „Wendepunkt“ gegeben, der Einrichtung für obdachlose Frauen in der Neustadt. Dort arbeitet sie an der Pforte, überwiegend im Tagdienst.

„Ursprünglich gab es nur Prinzessin Schnuff-Schnuff“, erzählt die 55-Jährige. Dabei handelt es sich um ein inzwischen neun Monate altes Mädchen, das mit seiner Mutter im „Wendepunkt“ wohnt und vor ein paar Monaten lästigen Schnupfen hatte. Margit Braun schaukelte das Baby oft in ihren Armen und schniefte solidarisch mit dem Baby im Wechsel. Prompt färbte Prinzessin Schnuff-Schnuffs Name auf sie ab.

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Am Empfang bekomme man viel vom Leben der Frauen mit, erzählt sie: „Wenn ich da sitze, bin ich natürlich immer greifbar.“ Und das auch dann noch, wenn die Sozialarbeiterinnen sich in den wohlverdienten Feierabend verabschiedet hätten. Für die jüngeren Frauen sei sie tatsächlich oft so etwas wie ein Mutterersatz oder eine ältere Freundin, erzählt Braun. Die meisten im „Wendepunkt“ sind zwischen 20 und 50 Jahre alt.

Im Tagdienst gibt es eine ganze Menge an Aufgaben, die an der Pforte erledigt werden müssen. Nachdem der Nachtdienst die Notübernachtungsfälle aufgenommen und auf die freien Betten verteilt hat, muss Margit Braun vormittags die dazu nötigen Unterlagen ausfüllen und die administrativen Prozesse ankurbeln. Beispielsweise wird ermittelt, ob Beratungsbedarf besteht – und wenn ja, welcher genau.

Vormittags rufen auch die Frauen an, die nicht im „Wendepunkt“ wohnen, aber von dem Angebot Gebrauch machen, die Nahestraße 7 als Postanschrift anzugeben. „Wir erwarten, dass sie sich täglich melden“, sagt Braun. „Denn wir öffnen die Briefe nicht, und wenn es um ein Schreiben vom Amt geht, beispielsweise vom Jobcenter, dann können darin kurzfristige Termine angekündigt werden.“ Wer sich an diese Regel nicht halte, werde nach ein paar Tagen aus der Registrierung gelöscht.

Und dann sind da natürlich noch die täglichen Anrufe von Frauen, die nach Hilfe suchen und solchen, die tagsüber bereits auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf sind. „Ihnen zeige ich die Zimmer sowie alles Weitere und verteile die Schlüssel“, erzählt Margit Braun. Wer im „Wendepunkt“ keinen Platz findet, werde an andere Einrichtungen vermittelt. Im mittleren Dienst von 14 bis 20 Uhr bekomme sie auch die Abende im Gemeinschaftsraum mit. Abendessen, Erzählen, Fernsehen. „Wir leben mit den Frauen“, sagt Braun.

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Margit Braun selbst hat der Zufall in den „Wendepunkt“ verschlagen. Vor anderthalb Jahren habe sie eine Stellenanzeige gelesen, die auf Anhieb interessant klang. Zu dem Zeitpunkt arbeitete sie in Ingelheim im Verkauf und suchte nach einer anderen Herausforderung. „Ich wollte etwas, bei dem es mehr menschelt, bei dem ich direkt helfen kann“, erzählt die 55-Jährige. Ursprünglich lernte die in Gau-Algesheim aufgewachsene Ingelheimerin sogar mal Speditionskauffrau bei der Deutschen Bahn und ließ sich später zur Krankenschwester umschulen. Vom Verkauf wechselte sie dann in den Sozialen Bereich. Und hier möchte sie bleiben.

Sogar an Heiligabend arbeitet sie dieses Jahr zum zweiten Mal freiwillig. Nach der Bescherung mit ihrem Ehemann und ihrer Mutter – die Kinder sind längst erwachsen und aus dem Haus – fährt sie nach Mainz, um mit den Frauen heißen Apfelsaft zu trinken. „Besonders an solchen Tagen ist es wichtig, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie wichtig sind“, weiß Braun. Auch der Spaß dürfe nicht zu kurz kommen. An Fastnacht beispielsweise organisierte Margit Braun eine Playback-Hitparade – mit Evergreens von Rex Gildo, Joy Fleming und Gloria Gaynor.

Es sind enge Bindungen, die über die Monate wachsen, sagt sie. „Beim Auszug werde ich aber nicht wehmütig, so wie das bei meinen Kindern der Fall war“, sagt sie. „Denn ich freue mich in erster Linie, dass die Frauen eine eigene Wohnung haben.“

So wird auch Prinzessin Schnuff-Schnuff irgendwann mit ihrer Mutter den „Wendepunkt“ verlassen. Oma Schnuff-Schnuff bleibt weiterhin für alle da und freut sich auf den Besuch der Ehemaligen, die auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen, um stolz zu erzählen, wie sich ihr Leben stabilisiert und weiterentwickelt hat.