Schamlosigkeiten auf Mainzer Zitadelle

Miss Allie scheut vor Schamlosigkeiten nicht zurück – dem Publikum gefällt’s. Foto: hbz/Kristina Schäfer
© hbz/Kristina Schäfer

Miss Allie, preisgekrönte Singer-Songwriterin aus Berlin, entzückte ihr Publikum mit Engelsstimme und losem Mundwerk. Vor heiklen Themen scheut sie nicht zurück.

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MAINZ. Eigentlich erscheint sie ganz niedlich mit großer Gitarre, Hippiestirnband, weißem Schlabbershirt und rotem Herzchen am Mikrofonständer. Doch die blonde Fee, die sich Miss Allie nennt und an deren Mund junge Paare hängen, hat es faustdick auf der nicht gerade jugendfreien Zunge. Sie säuselt zwar die meiste Zeit wie ein verliebter Teenager im Endorphinrausch, pfeift, zetert und schmeißt aber mit Obszönitäten um sich, als wäre sie in der Carolin-Kebekus-Show.

Allzu lange war die 2021 mit dem deutschen Kleinkunstförderpreis der Stadt Mainz ausgezeichnete Sängerin dank TV-Formaten nicht in der Versenkung verschwunden. Auf der Zitadelle spielt sie ihren fünften Gig, und alles fühlt sich noch ungewohnt an.

Der Lockdown scheint auch für sie ein Beziehungskiller gewesen zu sein, denn bereits im zweiten Song spült Miss Allie ihr Herz zum Klo runter und jagt ihm auf gelbem Pferd mit lila Punkten hinterher. Das Wort Scheiße bekommt bei der Jagd durchs Abwassersystem eine ganz neue Bedeutung. Wären das die einzigen strengen Gerüche und Fäkalien, der gut besuchte Abend hätte ein gemütlicher werden können. Doch dann tauchen ein schweißgebadeter Schrebergärtner, Kfz-Mechaniker Schmidti und Antiheld Dieter, („der untenrum eine Dieterin ist“) auf. Wenig kulinarisch geht es auch beim Anmachsong „Schweinesteak medium“ zu, in dem Miss Allie mit Mutters Benimmregeln komplett bricht und sich als saftig-blutiges Frischfleisch inszeniert.

Einmal fragt sie in die jugendlich wohlwollende Abendrunde mit lauthals am Himmel konkurrierenden Kranichen „Sind denn auch Kinder da?“. Ihre 17- bis 30-jährigen Fans kommen, weil sie Mädels-Themen aus Liebe, Beziehung und Sexualität anspricht, um sie aus der Schmuddelecke zu holen und humorvoll aufzubereiten.

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Miss Allie inszeniert sich dabei als kleine Singer/Songwriterin mit Herz und losem Mundwerk. Tatsächlich hat sie ihren Masterabschluss an der Uni Lüneburg über Songschreiberinnen wie Joni Mitchell, Suzanne Vega oder Tracy Chapman gemacht, doch sie gibt lieber den weiblichen Blödelbarden mit Schimpfwort-Tourette-Syndrom. In einer verschwitzen Musikkneipe begann sie allabendlich, vor Betrunkenen „Wonderwall“ zu grölen – beste Schule für die große Bühne.

Ihr wenig kunstvolles, meist perkussives Gitarrenspiel setzt sie höchst effektiv und textdienlich ein. Für Balladen im Walzertakt nutzt sie auch mal das filigranere Fingerpicking. Größtes Kapital ist ihre natürliche Sopranstimme, mit der sie die Lieder zelebriert und in denen das Publikum jedes Wort versteht.

Die zweite Hälfte beginnt sie mit den Worten: „Kommt herbei, meine Schäfchen, die Lockdown-Songs müssen noch entjungfert werden“. Themen wie Corona-Depression, Homeoffice mit Bier und Fernsehserien, bluttriefende Menstruation, fiese Anmache, Konkurrenzdruck oder Online-Bestellwahn werden Lied für Lied abgearbeitet. Romantische Balladen sind oft die fiesesten Aufreger, und das Publikum darf das Lustgestöhn im Chor aufgreifen oder darauf pfeifen.

Auch wenn nicht jedem Schamlosigkeit und gespielte Naivität gefällt, die sie wie einen Schutzschirm vor sich herträgt, hat Miss Allie, die eigentlich Elisa Hantsch heißt, ihr Publikum gefunden. Dass sie dabei bis auf ihr Friedenslied gesellschaftliche Themen meidet, mag man ihr nachsehen – auch dass sie trotz Regenlied nicht auf die Überschwemmungskatastrophe eingeht. Aber das hätte die Stimmung getrübt.

Von Fred Balz