Oma liefert rasante Steilvorlagen, Opa philosophiert,...

„Ach, diese Lücke“: Mainzer Kammerspiel-Reihe „Lieblingsbücher“

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MAINZ. „Ganz und gar lebendig“ bleiben die Großeltern in seiner Erinnerung, schreibt Joachim Meyerhoff. Und ganz und gar lebendig kommen auch markante Szenen aus seinem Buch auf die Bühne: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ bildet den Auftakt der neuen Theaterreihe „Lieblingsbücher“ in den Mainzer Kammerspielen. Konzept und Regie liegen in den Händen von Claudia Wehner. Stürmischer Beifall und Bravo-Rufe zur Premiere: Das abwechslungsreiche Genre des musikalischen Lesetheaters kommt sehr gut an.

Ob man die Literatur schon kennt oder sich überraschen lässt: Schnell ist man mittendrin im Geschehen, das sich zu Szenen zusammenfügt aus gespielten und gelesenen Buch-Passagen.

Einen Klangteppich für das Ganze rollt Thilo Zetzmann mit seiner Live-Musik aus, ob am Klavier, mit Gesang oder Gitarrenbegleitung. Eine gelungene Mischung aus „so geprobt“ und „spontan improvisiert“ bieten auch Achim Stellwagen und seine beiden Bühnenkollegen: Glaubwürdig verkörpert Leonhard Schärf Meyerhoff als jungen Mann, der unerwartet auf der Schauspielschule in München angenommen wird. Wurde ein Container eben zum Vorsprechen genutzt, werden nun Tische und Stühle zurechtgerückt, um nachzustellen, wie die Großeltern im Esszimmer genießen: Vom frühen Schampus bis zum Whiskey und weinseligen Ausklang am Abend. Während seiner Ausbildung wohnt er in ihrer großbürgerlichen Villa und erlebt ihren von sonderbaren Ritualen geprägten Alltag mit – der ihm dennoch Geborgenheit gibt.

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Schneller Rollentausch mit wenigen Handgriffen

Achim Stellwagen spielt den Großvater, einen emeritierten Philosophieprofessor, der über Gott und die Welt reflektiert, auch wenn er merkt, dass er selbst immer weniger wird. Überzeugend schlüpft Bodil Strutz in die Rolle der Großmutter, als frühere Schauspielerin und alternde Diva mit akkurater Betonung und dramatischen Gesten, die zum Schmunzeln anregen. Mit wenigen Handgriffen wechselt sie vor aller Augen die Rolle, greift sich eine andere Jacke vom Kleiderständer, wuschelt die Haare auf – und schon gibt sie die Schauspiel-Dozentin, die ihren Schützlingen einiges abverlangt: Teile einer Maschine sollen sie werden, die immer mehr Fahrt aufnimmt. Oder sich so richtig in ein Tier hineinversetzen. Ausgerechnet ein Nilpferd!

Eine Steilvorlage für Achim Stellwagen, der es mit vollem Körpereinsatz mimt. Tränen lachen können die Zuschauer dabei, doch auch die Traurigkeit des jungen Erwachsenen nachempfinden, der mit seiner Berufswahl hadert und nach dem Abschluss „mit Bühnenreife“ keine Stelle findet. Das Gefühl, neben sich zu stehen, teilt er mit Werther, Goethes tragischem Helden, der auch die „entsetzliche Lücke“ beklagt.

Der lückenlos unterhaltsame Theaterabend macht Appetit, die Lieblingsbücher neu oder noch einmal zu lesen – und neugierig auf weitere Abende der Reihe, die unterschiedliche Literatur lebendig macht.