Nähe auf Zeit im Mainzer Wendepunkt

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Die Sozialdienst-Mitarbeiterinnen im „Wendepunkt“ helfen wohnungslosen Frauen, sich im Alltag zurechtzufinden. Dabei entstehen gute Beziehungen auf Zeit.

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MAINZ. Es gibt diesen einen Moment, in dem es „klick“ macht. Dann, wenn Nähe entsteht. Zwischen den Frauen, die zum „Wendepunkt“ kommen. Und den Frauen, die in der Einrichtung für Frauen in sozialen Notlagen im Sozialdienst tätig sind. „Wenn die Frauen merken, dass wir das aushalten, was sie uns zumuten.“ So beschreibt Sozialarbeiterin Kathrin Boller den besagten Moment. Auch für ihre Kollegin Annette Steller gehört dieses „Aushalten“ bei der Sozialarbeit dazu. Sie ergänzt außerdem: „Verstehen, Bemühen, Zuhören“. Denn die Frauen, mit denen Annette Steller, Kathrin Boller, Meike Jung und Sophia Fritz im Wendepunkt zusammenarbeiten, wollen auch mal „ihr Herz ausschütten“, wie Steller erzählt. Das vierköpfige Team des Sozialdienstes ist aber auch dafür zuständig, mit den Frauen Aufgaben des Alltags zu bewältigen. „Wir verfolgen den Kernauftrag in der Betreuung der Frauen und haben viele Angebote unter einem kleinen Dach“, beschreibt Boller das Haus in der Nahestraße in der Neustadt.

Der Sozialdienst ist in der ersten Etage untergebracht, hier haben die vier Mitarbeiterinnen ihre Büros. Die Bewohnerinnen kommen zu fest vereinbarten Terminen vorbei, aber auch spontan. „Man weiß morgens nicht, was auf einen zukommt“, sagt Boller. „Es ist das Spannende, dass es nie gleich bleibt“, fügt Meike Jung hinzu. Der Sozialdienst kümmert sich nicht nur um die Frauen, die im Haus untergebracht sind, sondern auch um diejenigen, die vor der Tür stehen oder anrufen. Dabei gehe es immer häufiger auch darum, zu filtern.

Denn nicht für jede Frau ist der Wendepunkt die richtige Adresse. Auch deshalb muss zuerst die Notlage festgestellt und dann geschaut werden, welche Einrichtung die geeignete ist. „Wir sind eine Anlaufstelle für viele Frauen, die wohnungslos sind, und haben auch viele Anfragen von Familien“, sagt Annette Steller. Ihr sei aufgefallen, dass die „geballten Problemlagen“ zugenommen hätten, die Frauen also viele Probleme auf einmal haben. Um diese herauszufiltern, bedürfe es einer längeren Beratung.

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Ein abwechslungsreiches, aber auch unruhiges Arbeitsumfeld, wie Kathrin Boller beschreibt. Doch das Sozialteam ist schon lange dabei. „Daran sieht man auch, wie viel Spaß es uns macht.“ Die Arbeit ist dabei so vielfältig wie die Geschichten der Frauen, die zum Wendepunkt kommen. Natürlich werde auch über Probleme gesprochen, schließlich haben die Sozialarbeiterinnen auch eine soziotherapeutische Zusatzausbildung. Doch in den Einzel- und Gruppengesprächen geht es auch um ganz konkrete Hilfestellungen. „Wie telefoniere ich mit einem Gläubiger oder einem Anwalt? Wie schreibe ich einen Brief? Wie fülle ich einen Antrag aus?“, zählt Annette Steller auf. Was wann gemacht wird, wird in einem sogenannten Hilfeplan erfasst, den die Mitarbeiterinnen gemeinsam mit den Bewohnerinnen erstellen. Auch zu Terminen begleiten die Sozialarbeiterinnen die Frauen, die meistens zwischen 18 und 30 Jahren alt sind. „Wir gehen mit zu Ärzten, zu Behörden, zum Jobcenter“, sagt Kathrin Boller. Ihr Team sieht sie als Knotenpunkt für die Bewohnerinnen. Das Ziel sei es, den Frauen ein Kooperationsnetzwerk mit auf den Weg zu geben, sodass diese auch nach ihrer Zeit im Wendepunkt wüssten, an wen sie sich wenden können.

Denn bei aller Nähe, allem Vertrauen und Zutrauen, das zwischen den Wendepunkt-Mitarbeiterinnen und den betroffenen Frauen während der gemeinsamen Zeit entsteht – das Ziel ist es, dass die Frauen wieder auf eigenen Beinen stehen. „Es ist das Schönste für mich, wenn eine Frau und ich einer Meinung sind, was die Verselbstständigung angeht“, sagt Annette Steller. Dann macht sich das Sozialteam gemeinsam mit der Frau auf Wohnungssuche. Keine leichte Sache in Mainz. Verläuft die Suche erfolgreich, bricht für Annette Steller und ihre Kolleginnen eine andere Zeit an: „Wir müssen sie dann loslassen“, sagt Steller. Im schönsten Fall würden die ehemaligen Bewohnerinnen weiter Kontakt halten. „Aber wenn sie ausziehen, sind sie an sich weg. Wir hoffen, dass sie dann auf eigenen Füßen stehen.“ Auch Kathrin Boller freut sich immer wieder, wenn sie sieht, dass es den Frauen gut geht, mit denen sie zuvor zusammengearbeitet hat. „Es ist schön, wenn wir ihren Weg weiterverfolgen dürfen.“ Manch eine sei sogar weiter ehrenamtlich im Wendepunkt tätig. „Das ist schon außergewöhnlich“, sagt Boller. Bei psychischen Erkrankungen oder im Rahmen der Jugendhilfe ist eine Betreuung auch nach dem Auszug möglich.

Auch wenn die Wendepunkt-Mitarbeiterinnen den Bewohnerinnen nur eine „Beziehung auf Zeit“ bieten können, würden ihnen viele der Frauen ans Herz wachsen, erzählt Boller. „Wir sind ja keine Betreuungsroboter.“ Annette Steller fügt hinzu, dass Professionalität zwar wichtig sei. „Aber mit Gefühlen und Emotionen.“ Eine Sache ist dem Sozialteam dabei sehr wichtig: „Unsere Frauen wollen kein Mitleid. Sie wollen neu anfangen“, sagt Kathrin Boller. „Die Frauen wären fassungslos, wenn ich in einem Beratungsgespräch anfangen würde zu weinen.“ Deshalb laute das Credo: mitfühlen ja, mitleiden nein.