Mainzerin war fünf Jahre im Wendepunkt – ihre Rettung

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Die meiste Zeit ihres Lebens hat Eleonore Breuer in der Mainzer Neustadt verbracht. Am 117er Ehrenhof spielte sie als Kind im Brunnen. Heute wohnt sie ganz in der Nähe. Foto: Lukas Görlach
© Lukas Görlach

Eleonore Breuer war ganz unten: Alkoholkonsum, entzweite Familie, Schulden, Obdachlosigkeit. Durch einen Zufall erfuhr sie vom Wendepunkt – für die heute 62-Jährige die Rettung.

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MAINZ. „Von de Lung uff die Zung“ – so beschreibt Eleonore Breuer ihre Art zu reden. Die 62-Jährige hat keine Hemmungen, ihre Geschichte zu erzählen. Sie spricht offen und ehrlich über Alkoholkonsum, eine entzweite Familie, Schulden, Obdachlosigkeit und darüber, wie es so ist, ganz unten zu sein. Doch Eleonore Breuer hat auch noch eine andere Geschichte zu erzählen. Die von ihrer Rettung durch den Wendepunkt. An die erinnert sich die gebürtige Mainzerin nämlich ganz genau.

Die meiste Zeit ihres Lebens hat Eleonore Breuer in der Mainzer Neustadt verbracht. Am 117er Ehrenhof spielte sie als Kind im Brunnen. Heute wohnt sie ganz in der Nähe. Foto: Lukas Görlach

Es war der Sommer 2004. „Ich hatte meine Miete versoffen“, erzählt Breuer. An Heiligabend im Jahr zuvor hatte ihre jüngste Tochter ihr offenbart, dass sie künftig beim Vater leben wolle. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Breuer. Von diesem Zeitpunkt an habe sie nur noch getrunken. Sie verlor ihren Job, dann ihre Wohnung. Mit einem Rucksack voller Wechselklamotten schlug sie sich auf der Straße durch. Nachts auf der Parkbank, tagsüber in den Wirtschaften. Als sie wegen Schwarzfahrens in der Küche des Rathauses Sozialstunden ableisten musste, erzählte ihr eine Mitarbeiterin vom Wendepunkt. „Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass es so ein Angebot in Mainz gibt.“ Dass sie davon erfuhr, war ein glücklicher Zufall.

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Eleonore Breuer rief beim Wendepunkt in der Nahestraße 7 an und schilderte ihre Situation. Ein Termin wurde vereinbart. „Aber da hatten die Deutschen ein Spiel bei der Fußball-EM, das ich sehen wollte“, lächelt Breuer. Sie verschob ihren Termin um einen Tag und hatte anschließend deutlich mehr Glück als die Mannschaft von Rudi Völler, die beim Turnier in Portugal in der Vorrunde ausschied. Breuer bekam ein Einzelzimmer im Erdgeschoss des Wendepunktes.

Sie hatte wieder ein Dach über dem Kopf und Menschen, an die sie sich wenden konnte – Menschen, die ihr bei alltäglichen Aufgaben zur Seite standen. Diese Hilfe anzunehmen, sei ihr schwergefallen, sagt Breuer im Rückblick. „Ich hatte immer eine Wohnung und mein eigenes Geld verdient.“ Aus der anfangs ungewohnten Situation ist mittlerweile tiefe Dankbarkeit geworden. „Der Wendepunkt hat mir zu 1000 Prozent geholfen“, sagt die 62-Jährige. Ohne das Angebot in der Neustadt würde sie auch heute noch auf der Straße leben und trinken, ist die Mainzerin überzeugt. „Oder ich wäre schon 1,50 Meter tief unter der Erde.“ Der Wendepunkt habe ihr das Leben gerettet.

Mit den Mitarbeiterinnen bekam sie ihre Schulden in den Griff, durfte zudem als Hauswirtschafterin mitarbeiten. „Ich koche gerne, am liebsten für eine ganze Kompanie.“ 2009 sei sie dann bereit gewesen, die Einrichtung zu verlassen. „Das ist ja auch das Ziel“, sagt die gelernte Einzelhandelsverkäuferin. Breuer suchte nach einer eigenen Wohnung und hatte wieder Glück. In unmittelbarer Nähe zur Nahestraße fand sie ein Einzimmer-Appartement. „Da ziehe ich nicht mehr aus“, sagt Breuer, „nur noch mit den Füßen voraus.“

Natürlich sei ihr der Abschied vom Haus in der Nahestraße nach fünf Jahren schwergefallen, hinzu kam die Umstellung, plötzlich wieder alleine zu leben. „Aber ich war auch ein bisschen stolz darauf. Da bin ich gleich zehn Zentimeter gewachsen.“

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Dem Wendepunkt ist sie bis heute nicht nur dankbar, sondern auch verbunden. Bis zum vergangenen Jahr bereitete sie für die derzeitigen Bewohnerinnen ehrenamtlich das Frühstück zu. Mit der früheren Leiterin und Gründerin Helga Oepen hat sie genauso Kontakt wie mit der aktuellen Leiterin Ina Raiser. Auch mit den Frauen, mit denen Breuer in einer Vierer-WG lebte, hat sie noch zu tun. „Zumindest mit denen, die ich leiden kann“, lächelt die 62-Jährige. Auch wenn die Verbindung zum Wendepunkt nie abbreche, könne sie mittlerweile auf eigenen Beinen stehen. „Aber wenn es etwas Gutes zu essen gibt, gehe ich auch gerne mal beim Wendepunkt vorbei.“

Seit 2018 hat Eleonore Breuer auch dem Alkohol abgeschworen, nachdem sie eine Entgiftungskur und eine dreimonatige Reha hinter sich gebracht hat. In dieser Reha sollte sie eine To-do-Liste für die Zeit nach dem Aufenthalt erstellen. Breuer schrieb darauf, dass sie den Kontakt zu ihren drei erwachsenen Kindern aufnehmen wolle. Seit ihrer Zeit im Wendepunkt hatte sie nichts mehr von ihnen gehört, weiß nur, dass sie mindestens zwei Enkel hat. Eigentlich wollte sich Eleonore Breuer vor Weihnachten bei ihren Angehörigen melden, doch das schaffte sie nicht. Es steht auf ihrer Liste für das neue Jahr.