Kinderarmut in Mainz: Das ist die Lage in den Stadtteilen

Jedes sechste Kind in Mainz lebt in Armut. Das neue Mainzer Bündnis „Gleiche Chancen für alle Kinder“ vermutet beim Lerchenberg sogar, dass 50 Prozent aller Kinder im Stadtteil arm sind.
© Ralf Geithe - stock.adobe.com

In drei Stadtteilen von Mainz lebt jedes vierte Kind in Armut. Das Bündnis „Gleiche Chancen für alle Kinder“ fordert mehr Initiative von der Stadt. So ist die aktuelle Situation.

Anzeige

Mainz. Familien mit mehreren Kindern, die in einem einzigen Zimmer wohnen und kaum über die Runden kommen – es gibt sie in Mainz. Man möchte diese traurige Realität eigentlich nicht glauben, doch: Jedes sechste Kind in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt lebte 2020 in Armut. Das hat das Institut für Sozialpädagogische Forschung in Mainz berechnet. Für die Betroffenen bedeutet das materiellen Mangel, schlechtere Bildungschancen, gefährdetere Gesundheit und eingeschränktere Entwicklungsmöglichkeiten als bei anderen jungen Menschen. Nun hat sich das Bündnis „Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche“ mit dem Ziel gegründet, eine starke Lobby für die Rechte armutsgefährdeter Kinder zu sein. Bereits 13 Organisationen sind diesem Zusammenschluss beigetreten. Und wenn es nach den Initiatoren geht, dürfen es durchaus noch mehr werden. 

Das Beispiel mit der Familie, die auf engstem Raum wohnt, ist ein drastisches. Doch Armut fange schon viel früher an, weiß Bündnis-Sprecher Friedemann Schindler, der sich beim Kinderhilfswerk „Terre des hommes“ engagiert. „Kinderarmut ist in Mainz ungleich verteilt“, führt er aus. Geht man rein von den Zahlen aus, wie viele Kinder Sozialleistungen beziehen, dann ist auf dem Lerchenberg, in Mombach und in der Neustadt jedes vierte Kind betroffen, in der Altstadt, in Finthen und in Marienborn jedes fünfte Kind. In Drais wachsen nur drei von 100 Kindern in Armut auf. Schindler macht aber deutlich, dass wesentlich mehr Kinder betroffen sind. Laut Angaben der Bertelsmann-Stiftung sind es für Rheinland-Pfalz circa 1,8-mal so viele. Für den Stadtteil Lerchenberg bedeutet dies im Klartext: Etwa die Hälfte aller dort lebenden Kinder ist armutsgefährdet.

Anzeige

„Die Ursachen und Folgen von Kinderarmut sind bekannt“, sagt Regine Schuster, ebenfalls Bündnis-Sprecherin und stellvertretende Landesgeschäftsführerin von „Der Paritätische“ Rheinland-Pfalz/Saarland. „Sie werden seit Jahren diskutiert und wissenschaftlich bearbeitet. Weitere Erkenntnisse sind nicht notwendig.“ Bereits 2009 habe die Stadt ein Handlungskonzept gegen Kinderarmut erarbeitet. Was fehle, sei allein dessen konsequente und systematische Umsetzung. „Auch die städtische AG Armut und Sozialraumanalyse hat seit drei Jahren nicht mehr getagt, obwohl die Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen stark zugenommen haben“, sagt Schuster. „Corona hat die Lücken, die schon da waren, nochmal intensiv verstärkt.“ Im Koalitionsvertrag der Ampel hätten sich Grüne, SPD und FDP zudem den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen verpflichtet, bringt Schindler in Erinnerung. Und diese umfassen auch eine soziale und nachhaltige Entwicklung. „Nachdem die Hälfte der Wahlperiode bereits vorüber ist, wird es Zeit, den Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Denn es genügt nicht, zu klagen.“

Corona hat die Lücken, die schon da waren, nochmal intensiv verstärkt.

Regine Schuster Sprecherin des neuen Bündnisses „Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche“

Wie diese Taten aussehen könnten, dazu hat das Bündnis konkrete Vorstellungen. So fordert es, das Handlungskonzept nach 14 Jahren weiterzuentwickeln und umzusetzen. Auch die AG Armut solle zeitnah wieder tagen. Die dritte Forderung: Die Akteure in den vorhandenen Strukturen wie Jugendamt, Kitas, Schulen und Arbeitsagenturen intelligent zu vernetzen, damit eine Präventionskette aufgebaut und Vernachlässigungsstrukturen so früh wie möglich unterbrochen werden könne. Das Schulsystem müsste auf die Kitas reagieren können und die Kitas müssten alle zu richtigen Familienzentren ausgebaut werden, sagt Schuster und fasst zusammen: „Es müsste einen ganzheitlichen Ansatz geben, der die Kinder schon vor der Geburt bis zur Ausbildung im Blick hat.“ Für all diese Aufgaben müssten natürlich weitere Stellen geschaffen und besetzt werden. Deshalb fordert das Bündnis personelle Aufstockung in sämtlichen Bereichen.

Kinderarmut ist in Mainz ungleich verteilt.

Friedemann Schindler Sprecher des neuen Bündnisses „Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche“ und Mitglied bei „Terre des hommes“.
Anzeige

Ein Vorschlag des Bündnisses wäre, eine Stabsstelle für die Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen direkt beim Oberbürgermeister anzusiedeln. „Denn die Bekämpfung von Armut kann jedes Ressort betreffen, etwa den Bereich Wohnen oder Kultur“, weiß Schuster. Tatsächlich hatten sich die Bündnis-Initiatoren mit dem neuen OB Nino Haase (parteilos) vor der Wahl bereits über das Thema ausgetauscht. Haase sei über die Armutszahlen schockiert gewesen. Er habe angekündigt, die Themen Chancengleichheit und Armutsbekämpfung zu einer „Herzensangelegenheit“ machen zu wollen, wenn er im Amt ist.