Die Stadt Mainz will zu einem Top-Standort für Biotech Unternehmen werden. Doch bei allem Eifer analysiert Experte Christian Tidona die Pläne der Landesregierung schonungslos.
MAINZ. Eigentlich wäre er der perfekte Berater für die rheinland-pfälzische Landesregierung und die Stadt Mainz beim Ausbau des Biotechnologistandortes. Daran hat Christian Tidona, selbst erfolgreicher Unternehmer an der Schnittstelle zwischen Forschung und Industrie, allerdings kein Interesse. Er ist einer der Treiber des größten deutschen Biotech-Hubs in Heidelberg und zugleich mit der Mainzer Entwicklung und ihren Akteuren vertraut. Tidona sieht die Chancen von Mainz. Er benennt in diesem Interview aber auch eine Reihe politischer Versäumnisse – und setzt Warnzeichen.
Herr Tidona, der Biotech-Hub in Heidelberg, das Rhein-Neckar-Cluster BioRN, ist neben München das größte in Deutschland. Wie sehen Sie die Wachstumsperspektiven für Biotechnologie in Deutschland? Ziemlich gut. Der weltweit beachtete Erfolg von Biontech hilft dabei. Und in Heidelberg konnten wir gerade mit den amerikanischen BioLabs und der Evotec Bridge mehrere spektakuläre Ansiedlungserfolge verzeichnen. Wir haben einen Masterplan entwickelt, nach dem wir hier auf dem großen Life Science Campus im Neuenheimer Feld die Geschossflächen in den kommenden 30 Jahren noch einmal verdoppeln möchten.
In diesem Konzert möchte in Zukunft auch Mainz mitspielen – aufbauend auf dem Erfolg von Biontech. Eine gute Idee? Ja natürlich muss man dieses Momentum unbedingt nutzen.
Wie nehmen Sie die Mainzer Pläne aus Heidelberger Sicht wahr? Ambitioniert, überambitioniert? Als zu kurz gesprungen. Mainz sieht angesichts des Erfolgs von Biontech nach meinem Eindruck nicht, dass man erstmal ganz hart an den Voraussetzungen arbeiten muss, die einen zu einem Standort mit internationaler Strahlkraft machen. Ich nenne nur einen zentralen Punkt: Um mit einem Biotech-Cluster Toptalente etwa von der Stanford Universität oder Harvard nach Mainz zu holen, muss man das Ziel verfolgen, auf die weltweite Top-50-Liste im Bereich Medizin und Life Science zu kommen. Die Universität Heidelberg liegt dort heute auf Rang 34, die Mainzer Universität auf Platz 272.
Was halten Sie dann davon, wenn Stadt und Landesregierung angesichts des Erfolgs von Biontech mit Vokabeln wie der von der „Apotheke der Welt“ unterwegs sind? (lacht) Deutschland war einmal die Apotheke der Welt. Den Begriff sollte man besser nicht aufleben lassen. Im Bereich der Biotechnologie, wo uns die USA weit, weit voraus sind, schon gar nicht. Das schmälert nicht den unglaublichen Erfolg von Biontech.
Wenn es aber nicht gelingen sollte, das Umfeld von Biontech in ein biotechnologisches Cluster mit weltweiter Strahlkraft weiterzuentwickeln, kann sich so ein Börsenunternehmen ganz schnell in Richtung anderer Forschungsstandorte orientieren. Wenn ich mal ein Bild wählen darf: Ich würde Biontech mit einem Steinway-Konzertflügel vergleichen. Dann haben Sie in Mainz mit dem TRON noch eine Stradivari und an der Universität noch das ein oder andere Blasinstrument. Der Steinway braucht aber ein ganzes Orchester.
Welche Bausteine braucht es, um ein Biotech-Cluster aufzubauen? Auf der einen Seite benötigt man international herausragende akademische Forschung – also eine Universität, die in Life Science und Medizin mindestens in der Top-50 steht. Auf der anderen Seite eine vielfältige unternehmerische Basis aus Start-ups, mittleren und großen Unternehmen, die eng mit der akademischen Forschung kooperieren. Und dazwischen – das ist fast der wichtigste Baustein – verschiedene Instrumente der Translation, also zum Beispiel Inkubatoren und einen professionellen Technologietransfer, die eine Umsetzung der Forschungsergebnisse in wirtschaftliche Wertschöpfung aktiv unterstützen.
Mainz hat aber doch drei gute Voraussetzungen: über eine Milliarde Gewerbesteuer von Biontech, ein bereits erschlossenes Gelände in der Nähe zur Uni und zur Uniklinik und ein Erweiterungsgelände über 50 Hektar. Wird das nicht ein Selbstläufer? Einen ambitionierten Masterplan zu entwickeln und mit aller Konsequenz voranzutreiben ist das genaue Gegenteil von einem Selbstläufer. Wenn ich hier in Heidelberg mal zurückblicken darf: Das Neuenheimer Feld geht mit seinen 170 Hektar auf eine strategische Planung in den 80er-Jahren zurück. Damals hat man erkannt: Das Thema Life Science wird einmal richtig groß werden. Da hat man dann entschieden: Lasst uns in den nächsten 30 bis 40 Jahren einen Campus von Weltrang aufbauen.
Das Land Baden-Württemberg hat deshalb für Hunderte von Millionen Euro alle Kliniken und Institute der Uniklinik erneuert und dorthin umgezogen. Wir haben hier heute auf nur einer Quadratmeile 22.000 Arbeitsplätze und 16.000 Studierende in Life Science und Medizin. Und wir sind immer noch nicht Weltliga. Wir sind zum Beispiel noch meilenweit davon entfernt, wie selbstverständlich internationale Top-Wissenschaftler und Investoren anzuziehen.
Mainz war vor zehn Jahren mit dem sogenannten Ci3-Cluster, dem Cluster für individualisierte Immunintervention, zumindest auf der wissenschaftlichen Seite schon einmal auf einem guten Weg? Wir haben sehr eng mit dem Ci3-Cluster zusammengearbeitet, weil das ein begeisternder Ansatz war. Das waren damals schon im wesentlichen Ugur Sahin, Özlem Türeci und Christoph Huber. Die waren mit ihren Ideen zu den Möglichkeiten biotechnologischer Immuntherapien extrem früh dran und haben dann zurecht den Spitzencluster-Wettbewerb gewonnen. Man hat es damals aber versäumt, das Ci3-Cluster zu verstetigen. Biontech und das TRON haben es trotz dieser Versäumnisse geschafft. Das sind unbestritten zwei großartige Einrichtungen. Der Ansatz für ein Cluster fehlt aber. Dabei hatte man mit Rainer Wessel einen exzellenten Kopf, der heute in Mainz die Entwicklung zu einem Biotech-Cluster vorantreiben könnte.
Wer ist Rainer Wessel und warum ist er gegangen? Wessel ist heute Direktor für Innovations-Management beim Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Die zweite Frage müssten Sie ihm selbst stellen. Wenn man beim Aufbau eines Clusters mit weltweiter Strahlkraft erfolgreich sein will, müssen Leute auf den Fahrersitz, die das können. Es muss eine Handvoll Schlüsselindividuen geben, die sich einig sind, diesen Standort über Jahrzehnte hinweg zum Erfolg zu bringen. Diese Macher muss man dann aber auch massiv unterstützen und machen lassen. Die müssen die Vision entwickeln, was in Mainz in 20 bis 30 Jahren aufgebaut werden soll. Wenn das nicht passiert, wird Biontech mit seinem lokalen Wachstum sehr schnell an Grenzen stoßen. Dann wäre eine große Chance vertan – bis zur Gefahr einer Abwanderung.
Wie kann es sein, dass mit ActiTrexx ein Teilnehmer aus diesem Cluster jetzt in die klinische Forschung geht und keine Labore in Mainz findet? Solchen Ausgründungen nach vielen Jahren keinerlei Laborangebote machen zu können, ist ganz klar ein politisches Versäumnis. Wenn die Gründer lokal stark verwurzelt sind, werden sie sich vielleicht irgendwie durchwurschteln. Wenn Mainz aber Pech hat, geht die Firma irgendwann nach Heidelberg, München oder gleich in die USA.
Stadt und Land müssen sich in Mainz erst noch sortieren, wer welche Rolle einnimmt – jede Seite hat ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Das Land bei Berger, die Stadt bei Deloitte. Wie haben Sie das wahrgenommen? Wahrscheinlich braucht man solche Studien für den politischen Diskurs. Warum sich Stadt und Land aber nicht abgestimmt und gleich zwei verschiedene Beratungsfirmen beauftragt haben, die natürlich auch uns befragt haben, hat draußen niemand verstanden. Im Übrigen liefern diese Studien in der Regel das, was der Auftraggeber erwartet – eine Bestätigung seines politischen Narrativs. Solche Gutachten ersetzen allerdings nicht, dass man eine eigene langfristige Planung braucht, von Leuten, die diese Idee selbst verkörpern.
Biotech-Cluster zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein gewisses Profil haben. In Mainz ist das die Immunologie und der Kampf gegen den Krebs. Beides spielt in Heidelberg eine ähnlich große Rolle. Ein Handicap? Nein überhaupt nicht, im Gegenteil. Wir sehen Mainz und seine Chancen als eine Bereicherung. Und umgekehrt sollte das genauso sein. Nehmen Sie nur die Anwerbung von Spitzenkräften aus der Wissenschaft. Das sind nicht nur bei Sahin und Türeci ganz häufig Paare und Familien. Wenn einer nach Heidelberg oder Mainz kommen will und der andere Partner findet eine Stelle am anderen Standort oder in Frankfurt oder Darmstadt, dann ist das ein riesiger Standortvorteil für alle.
Haben Sie Verständnis dafür, dass man bei der rheinland-pfälzischen Landesregierung und bei der Stadt Mainz Sorge haben könnte, von Heidelberg einfach nur unter die Fittiche genommen zu werden? Das ist zu klein gedacht. Das ist die Schwäche unseres föderalen Systems in Deutschland und global betrachtet auch in Europa. Verglichen mit den großen amerikanischen Biotech-Clustern in Raum Boston und in der Bay Area ist das Fragmentitis, was wir hier bisher machen. Es gibt in Deutschland bald kein Dorf mehr, das nicht versucht, ein eigener Biotech-Standort zu werden. An die Weltspitze wird man so nicht kommen.
Würden Sie so weit gehen, dass Sie sagen, wir machen Lego statt Hausbau? (lacht) Wenn ich mir die unzähligen Biotech-Initiativen anschaue, muss man sagen: Ja leider. Die meisten kommunalen Wirtschaftsförderungen hierzulande haben noch nicht ansatzweise verstanden, nach welchen Kriterien heute Börsenunternehmen und ganze Branchen, die sich auf Risikokapital stützen, Standortentscheidungen treffen. An die Weltspitze wird man damit bei neuen Technologien wie Biotechnologie oder Künstlicher Intelligenz nicht kommen.
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Ich schaue aber noch einmal auf die Chancen, die wir hier in der Region Rhein-Main-Neckar haben. Wenn Sie das geografisch betrachten, passen wir in etwa in den Fußabdruck des Silicon Valley. Mainz und Heidelberg, Frankfurt und Darmstadt. Das sind aus dem Blickwinkel der USA und Asien keine zwei Regionen, nur weil sie zufällig in mehreren Bundesländern liegen. Das strategische Denken von Ministerpräsidenten und Oberbürgermeistern endet leider häufig - ganz egal wo - an den Landes- oder Stadtgrenzen, getaktet nach Wahlperioden.
Die industriellen Player in Rheinland-Pfalz wie Boehringer Ingelheim und Abbvie sind seit vielen Jahren Mitglieder in Ihrem Netzwerk BioRN. Können das Botschafter für den Kooperations-Gedanken sein? Ja gewiss. Die Partner waren ja auch bei unseren beiden Spitzenclustern federführend mit dabei. Im Gegensatz zur Politik hat die Industrie, die die globalen Herausforderungen kennt, mit dieser Art von Vernetzung überhaupt kein Problem.