Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert ist vom 21. September bis 2. Oktober in Kisumu, der drittgrößten Stadt Kenias, unterwegs, um sich dort um die Straßenkinder zu kümmern. Hier...
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Nach Einbruch der Dunkelheit fahr wir mit Davies und seinem Team ins Zentrum von Kisumu. Auf einem Parkplatz sitzen und liegen ungefähr 70 Straßenkinder. Die Sozialarbeiterinnen und Davies werden sofort von den Straßenkids umlagert. Auch wir werden begrüßt. Teilweise erkennen wir „unsere Wundsprechstunden-Patienten“ wieder.
Mehr als noch am Tage kommen Straßenkinder mit abgeschnittenen Plastikflaschen oder kleinen Schnapsflaschen zu uns, in denen sich Klebstoff oder Lösungsmittel befindet. Sie haben einen etwa zehn Zentimeter langen dünnen Holzstab dabei. Diesen stecken sie in das Lösungsmittel, lassen ihn über ihr Zahnfleisch gleiten oder halten das halbierte Plastikfläschchen mit den Zähnen so fest, dass sie den Inhalt mit der Nase inhalieren können.
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Kinder werden zum Essen eingeladen
Jetzt in der Nacht sind viele der Kids von dieser Droge stark beeinträchtig und benommen, das Reden fällt ihnen schwer. Wenn wir längere Zeit in der Nähe der Jungs stehen, spüren wir selbst die Wirkung dieser Billigdroge. Wir bekommen Kopfschmerzen, leichte Übelkeit und es wird uns auch ein wenig schwindlig. Immer wieder wird nach Essen gefragt. Wir behandeln einige Wunden und unterhalten uns, soweit dies möglich ist, mit den Kids.
Christine, eine der kenianischen Sozialarbeiterinnen, erklärt uns schließlich, dass sie keine Sozialarbeit hier machen können ohne den Straßenkindern etwas zu essen zu geben. „Wir können nicht einfach mit ihnen reden, da sein und dann wegfahren und sie hungrig zurücklassen“, resümiert sie. Also werden die knapp 70 Straßenkinder in ein einheimisches einfaches Lokal eingeladen. Pro Kind kostet dies 100 kenianische Schilling, also etwa einen Euro. Es gibt Ugali, ein fester Getreidebrei aus Maismehl, ein speziell kenianisches Essen, das den Magen füllt, auch wenn es nicht so besonders nahrhaft ist. Uns geistern die Fragen durch den Kopf: Wo werden die Kinder diese Nacht wieder schlafen? Im Freien und all den Gefahren der Natur und der Menschen ausgesetzt?
Die Geschichte von Brain
Brian ist ein Straßenjunge, den Heidi und ich vor vier Jahren in Kisumu kennenglernt haben. Er lebte damals schon seit Jahren auf den Straßen Kisumus. Brian ist ein Scheidungskind. Die Eltern nahmen ihre Kinder getrennt mit in die neue Partnerschaft. Brian wurde von der Stiefmutter sowie Stiefgroßmutter nie akzeptiert, immer wieder geschlagen und gedemütigt. Brian erzählte Heidi, dass die Großmutter sogar versucht habe, ihn zu vergiften. Er wurde notfallmäßig im Krankenhaus versorgt und bekam den Magen ausgespült.
Er hielt, verständlicherweise, diese Misshandlungen nicht mehr aus und musste um sein Leben fürchten. Sein einziger Ausweg war dann die Flucht auf die Straße. Dort wurde er, am Straßenrand liegend, womöglich schlafend, erschöpft oder von Klebestoff betäubt, von einem Auto überfahren. Aufgrund der schweren Verletzung wurde ihm damals im Krankenhaus von Kisumu sein linkes Bein amputiert. Kurz nachdem ihm eine Beinprothese angepasst wurde, entließ man ihn wieder auf die Straße. Wiederum war sein Straßenschlafplatz so ungünstig gelegen, dass eine Polizeistreife über seine Prothese fuhr, die dadurch zerstört wurde. In diesem Zustand kam er damals zu uns, zur deutschen Hilfsorganisation „Ubuntu“, die sich ebenfalls in der Region am Viktoriasee engagiert. Brian blieb lange Zeit im Ubuntu-Camp. Dort besuchte er die Schule, musste aber in eine der unteren Klassen gehen, obwohl er schon älter war, da er zuvor nur kurz eine Schule besucht hatte.
Heidi und ich haben vor vier Jahren eine finanzielle Partnerschaft für Brian übernommen. Nach ungefähr acht Monaten verschwand er wieder. Vielleicht frustriert darüber, dass er immer noch keine richtige neue Prothese hatte und die jüngeren Mitschüler schon wesentlich weiter im Lernstoff und dem entsprechenden Wissen waren oder aber auch aus Sehnsucht wieder zu den Kumpels auf die Straße zurückzukehren.
Vor dem Antritt unserer Reise hatten wir gehofft, Brian womöglich wieder zu sehen, vier Jahre nach unserem Einsatz vor Ort. Wir haben Davies und sein Team gefragt, doch keiner von ihnen kennt ihn. Bei 5.000 Straßenkindern ist die Chance, Brian wiederzufinden, ungefähr so groß, wie die berühmte Nadel im Heuhaufen zu finden.
Magic Moment mit Brian
Am heutigen Abend, als wir die Sozialarbeiterinnen und Davies bei der „Nachtsozialarbeit“ begleiten dürfen, geschieht dann doch das Unfassbare: Heidi und ich behandeln gerade die Wunde eines Straßenkids, als wir eine irgendwie vertraut klingende Stimme hören, die leise ruft: „Heidi, Heidi.“ Ich denke, wer von diesen Straßenkindern ruft denn nach diesem kurzen Kennenlernen schon so vertraut nach Heidi.
Dann höre ich Heidis Stimme, die aufgeregt fragt: „Bist Du es Brian?“ Und ja, er ist es! Ein Magic Moment für Heidi und mich. Wir umarmen uns, sind fassungslos! Nicht wir haben ihn, nein, Brian hat uns gefunden. Er wäre sonst nie an diesem Ort. Er habe Heidi erkannt und sei dann zu uns gekommen, erzählt er. Er lebe jetzt im Manyatta-Slum. Schnell stellen wir ihn Davies vor, vermitteln ihm, dass wir unbedingt den Kontakt aufrechterhalten möchten. Er strahlt vor Freude, Heidi ist glücklich und ich bin tief berührt. Wir werden versuchen unseren Plan von vor vier Jahren fortzuführen: Ihm eine weitere Ausbildung zum Fahrer zu finanzieren und ihm eine neue Prothese zu verschaffen, denn die fehlt ihm immer noch.
Hoffentlich bleiben wir über Davies und dessen Team in Kontakt mit Brian. Wir können es irgendwie immer noch nicht fassen, dass wir ihn wieder getroffen haben. Er liebt es übrigens in die Kirche zu gehen und dort zu singen. Ein Magic Moment den wir nicht vergessen werden!
Von Gerhard Trabert