Nach dem Besuch in einem Flüchtlingslager im Norden von Syrien hat der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert von katastrophalen Zuständen berichtet. Für 5000 Menschen in...
MAINZ . Faszinierend, aber auch erschütternd und bedrückend – so lassen sich die Eindrücke von Prof. Dr. Gerhard Trabert wohl am besten zusammenfassen. Für einige Tage reiste der Vorsitzende des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ in die syrische Kriegsregion nördlich von Aleppo. Dort besuchte er Krankenhäuser in den Städten Qamishli und Kobane, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen und den Bedarf an Hilfsgütern zu koordinieren. Im Gespräch mit der AZ schildert er seine Eindrücke.
Herr Trabert, Sie befinden sich gerade mitten im Kriegstreiben. Wie fühlt sich das an? Ich muss sagen, ich habe keine Angst. Eher im Gegenteil: Ich fühle mich richtig geborgen. Das liegt vor allem an den Menschen, die sehr freundlich und dankbar sind. Natürlich ist das Kriegsgeschehen Teil des Alltags hier, aber es gibt auch immer wieder schöne Momente. Ich befinde mich beispielsweise gerade in einem kurdischen Gebiet, aber die Akzeptanz zwischen Syrern und Kurden ist hier überraschend hoch – ab und zu treffen sie sich sogar auf einen Kaffee.
Wie sieht es denn generell in der Region aus? Natürlich ist sehr viel zerstört, aber es wird überall auch wieder aufgebaut. Unser Verein unterstützt dabei zum Beispiel den Bau eines Waisenhauses. Die Menschen sorgen dafür, dass hier wieder Stabilität einkehrt. Wir sind hier zwar mitten im Krieg, aber das Leben geht weiter. Wenn man hier unterwegs ist, sieht man an jeder Ecke Militärposten. Jeder hat eine Kalaschnikow in der Hand, riesige Militär-Konvois der Amerikaner rollen durch die Städte. Es tut sich hier einiges. Man möchte die Gesellschaft in der Region wieder aufbauen – und wir wollen dabei helfen. Ich war außerdem in einem Flüchtlingslager nördlich von Rakka und habe dort Kranke und Verletzte behandelt. 5000 Menschen leben dort und müssen sich zwei Wasserstellen und vier Toiletten teilen. Katastrophal! Und es kommen täglich neue Flüchtlinge an, die Offensiven in Mossul und Rakka erwarten.
Wie erleben Sie die Menschen? Ich finde es faszinierend, wie sie mit ihrer Situation umgehen. Außerdem regeln sie hier alles basisdemokratisch. Es gibt zum Beispiel einen Gesundheitsrat, der den Bedarf direkt an die Stadtoberen weitergibt. Das finde ich richtig gut und sehr wichtig. Frauen haben beispielsweise auch eine ganz andere Rolle hier. Sie werden genauso behandelt wie Männer, helfen, wo sie können, und sind in wichtigen Gremien vertreten. Es gibt schlicht keine Hierarchien mehr. Natürlich machen die Menschen hier viel durch, aber trotzdem weiter, und leisten einiges. Für die Kinder ist das hier auch alles andere als einfach. Sie sind sehr schreckhaft und teils ziemlich melancholisch und traumatisiert.
Wie ist die derzeitige Situation in den Gesundheitseinrichtungen? Es mangelt an vielen Dingen wie Medikamenten oder Geräte. Dringend benötigt werden zum Beispiel Brutkästen, in denen Neugeborene behandelt werden können. Das Kinder- und Neugeborenenzentrum in Kobane konnte damit nun versorgt werden. In Kobane wartet ein Chirurg auf einen Fixateur externe, mit dem er Knochenbrüche behandeln kann. Das ist ein Haltesystem, mit dem sich Körperteile ruhig stellen lassen können. Das sind nur ein paar Beispiele. Wir sammeln weiterhin Spenden und schauen auch genau, wo diese zielgerichtet eingesetzt werden können.
Was ist denn in den nächsten Tagen noch geplant? Ich werde noch einige Gespräche führen und ein paar Krankenhäuser besuchen – auch, um zu sehen, was die Kollegen noch gebrauchen können. Ich reise zum Wochenende hin wieder ab, da mein Visum dann abläuft. Dann werde ich meine gesammelten Erfahrungen erst einmal aufschreiben und vor allem sacken lassen.
Von Denise Frommeyer