Frau Schlüter sitzt in ihrer Küche, trägt mittellanges braunes Haar und eine weiße Bluse. Sie ist mittleren Alters, freundlich und zurückhaltend. Es ist hell und ruhig und...
MAINZ. Frau Schlüter sitzt in ihrer Küche, trägt mittellanges braunes Haar und eine weiße Bluse. Sie ist mittleren Alters, freundlich und zurückhaltend. Es ist hell und ruhig und riecht nach Putzmittel, hier oben im fünften Stock. Durch die Fenster sieht man den Rhein. Seit Februar lebt sie hier in einer der Wohngemeinschaften, die der Wendepunkt für wohnungslose Frauen wie sie bereitstellt. Ihren echten Namen möchte sie nicht verraten, auch nicht, wie alt sie ist oder warum sie ihre Wohnung verloren hat. „Wir reden hier nicht darüber, was uns vorher passiert ist“, sagt Frau Schlüter, die, wie sie sagt, einige schwere Schicksalsschläge durchlebt hat. „Das hier ist ein Neustart. Das ist auch gut so.“
Statt über ihre Vergangenheit redet Frau Schlüter über das Leben im Wendepunkt. Über Umwege sei sie hierhergekommen, kannte das Angebot vorher nicht und wurde von Bekannten vermittelt. Gott sei Dank, sagt sie heute: „Der Wohnungsverlust war ein Schock fürs Leben, aber hier habe ich so viel Unterstützung erfahren, dass ich es verkraften konnte.“ Die ersten drei Tage in der Notunterkunft seien besonders schwer gewesen, doch danach habe sie sich schnell eingewöhnt. Mit ihrem alten Leben hat sie gebrochen, konnte nicht viel aus ihrer Wohnung mitnehmen und hat auf dem Weg einige Freunde verloren.
Bald zog sie von der Notunterkunft in ein freies Zimmer in der Vierer-WG. Eine neue Erfahrung. „Unter Frauen zu wohnen ist toll. Das kann einen nur noch stärker machen. Alle möglichen Leute leben hier, auch Mädels, die gar nicht aus Deutschland stammen und wenig Deutsch sprechen. Dann kommuniziert man halt mit Händen und Füßen“, erzählt sie. Kinder sind ebenfalls Teil des Lebens in der Einrichtung. Eines sei erst vor Kurzem geboren worden. „Unser Baby“ nennt Frau Schlüter es liebevoll. Nie obdachlos, dafür immer aufgefangen habe sie sich dank der anderen Frauen und Mitarbeiterinnen während all der Zeit gefühlt.
Geboren und aufgewachsen ist Frau Schlüter in Mainz, so viel verrät sie dann doch noch. „Ich habe eine sehr schöne Kindheit gehabt. Der Zollhafen, das war früher unser Spielplatz. Jetzt sind da nur noch Eigentumswohnungen, die sich niemand mehr leisten kann.“ Von ihrem Küchentisch blickt sie direkt auf die modernen Neubauten des Zoll- und Binnenhafens. Mainz habe sich zum Negativen verändert, mit Mieten, die Wohnen für viele Menschen unbezahlbar machten und Geschäften und Lokalen, die ebenfalls stetig teurer würden. Auch sie hatte lange nach einer bezahlbaren Wohnung suchen müssen, bis sie die fand, aus der sie in diesem Jahr ausziehen musste. „Hätten sie statt der Luxuswohnungen bezahlbare Wohnungen gebaut, das wär’ gescheit gewesen. Aber für die Leute, die es nötig haben, ist nun mal nie genug Geld da.“
Wie es für sie weitergeht, weiß sie noch nicht. Auch das schätze sie am Wendepunkt: Dass ihnen kein Druck gemacht wird und sie sich in Ruhe sammeln können. Trotzdem geht es hier nicht darum, sich auszuruhen. Im Wechsel müssen alle Frauen Aufgaben im Haus übernehmen. Sie kochen, putzen und räumen auf. Tagsüber gibt es Programm, Kurse und gemischte Kreativangebote.
Einiges fehle aber auch, sagt Frau Schlüter, zum Beispiel ein Garten, in dem die Frauen etwas an der frischen Luft arbeiten könnten. Das Vergnügen komme immer etwas zu kurz, was an den fehlenden Möglichkeiten liege. Die Einrichtung sei auf Spenden angewiesen, doch viele Leute kennen sie überhaupt nicht. Außerdem sei Obdachlosigkeit noch immer stark stigmatisiert. In der Nachbarschaft werde sie oft schief angeschaut, wenn sie das Haus verlässt oder betritt. „Wir haben so viel Armut in Deutschland, so viele Obdachlose. Ich habe immer gesagt: Jedem kann das passieren, jeder kann mal dran sein. Deshalb war ich diesen Menschen immer offen gegenüber. Das hat geholfen, meine Situation zu akzeptieren.“