Ihr Projekt „Patient Buch sucht Paten“ machte sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Jetzt geht Annelen Ottermann von der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek in den Ruhestand.
MAINZ. Im niedersächsischen Winsen an der Aller wartet eine junge Bibliothekarin auf einen Anruf aus Mainz. Es ist Montag, der 18. Februar 1985. Sie möchte Rückmeldung bekommen auf das Bewerbungsgespräch, zu dem sie wenige Wochen zuvor in der Mainzer Stadtbibliothek eingeladen war. Sie ist ungeduldig und greift kurzerhand selbst zum Hörer. Nach über einer Stunde nimmt ein mürrischer Pförtner ab, der ihr in rheinhessischer Mundart seine Fassungslosigkeit entgegenbabbelt.
„Das war meine erste Lektion in Sachen Mainz“, erinnert sich Annelen Ottermann heute. „In Mainz ticken die Uhren anders – vor allem am Rosenmontag.“
Nach 34 Jahren hat sich Annelen Ottermann am Mittwoch in den Ruhestand verabschiedet. In ihrer launigen Rede ließ sie vor den anwesenden Freunden und Wegbegleitern ihr Wirken in der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Revue passieren. Am Anfang sei sie von ihren männlichen Kollegen kritisch beäugt worden: „Eine Frau, nicht promoviert, Norddeutsche, evangelisch – das sorgte damals für Irritation.“
Ottermann wiederum – nach eigener Aussage „Niedersächsin durch und durch“ – musste sich erstmal an die Rheinhessische Mentalität und Sprache gewöhnen: „Mein Mann und ich kannten keinen Spundekäs’, keinen Handkäs’, keinen Saumagen.“ Mittlerweile seien sie jedoch auch emotional in Mainz angekommen. „Manchmal setzen wir uns tatsächlich in einem der vielen Weinlokale zu anderen Leuten an einen Tisch“, witzelte die Niedersächsin in ihrer Abschiedsrede.
Annelen Ottermann kümmerte sich in der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek um Handschriften, Rara, Altbestände und die Bestanderhaltung. In vielen Ausstellungen brachte sie der Öffentlichkeit die Bücherschätze der Bibliothek näher. 2006 rief sie das Projekt „Patient Buch sucht Paten“ ins Leben. Viele Institutionen und Privatpersonen spendeten über 100 000 Euro, mit denen unersetzbare Bücher restauriert werden konnten. Dr. Annelen Ottermann, die über die Mainzer Karmelitenbibliothek promovierte, wurde zur Bücher-Ärztin.
Kulturdezernentin Marianne Grosse (SPD) sagte, Ottermann habe die Bibliothek in besonderer Weise im kulturellen Gedächtnis verankert. Dr. Stephan Fliedner, Direktor der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek, überreichte ihr zum Abschied ein ganz besonderes Buch: eine Festschrift zu Ehren Ottermanns. Titel: „Stabile Seitenlage. Vom Hegen und Pflegen der Bücher“.
Von Fabian Dombrowski