Siegerfilm zur Pogromnacht – die jungen Macher berichten
Gespräche mit Zeitzeugen, nachgespielte Szenen, animierte historische Fotos – vier Willigis-Schüler berichten über die Entstehung ihres preisgekrönten Films zur Pogromnacht.
Von Paul Birkner
Auch Zeitzeugen-Gespräche und Gegenwartsbezüge flossen in ihren Zehn-Minuten-Film ein: Die vier Preisträger mit ihrem Lehrer vor der neuen Synagoge (v.l.): Matthias Nick, Franziska Kißener, Claus Christian Speck, Frederic Farhat und Simon Leoff.
(Foto: hbz/Jörg Henkel)
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MAINZ - „Wo ist der Jud?“ brüllen die SA-Männer, als sie in die Wohnung von Bernhard Albert Mayer eindringen. Auch wenn er selbst ihn unversehrt übersteht, ist der 10. November 1938 für Mayer, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, ein Schreckenstag: Er erlebt 26 Jahre nach deren Bau die Zerstörung „seiner“ Synagoge in der Hindenburgstraße.
Seit den frühen Morgenstunden stehen die jüdischen Gotteshäuser in Mainz in Flammen. Der nationalsozialistische Mob zieht durch die Straßen, zerstört jüdische Geschäfte und Wohnungen und misshandelt die Bewohner. So ist auch Mainz ein Schauplatz der unmenschlichen Gewalt, die das NS-Regime in der Reichspogromnacht als „spontanen Volkszorn“ inszeniert und damit die systematische Verfolgung der Juden einleitet.
80 Jahre später haben vier Schüler des Willigis-Gymnasiums einen Film über das schicksalhafte Ereignis produziert. Mit ihrem Projekt haben Franziska Kißener, Matthias Nick, Frederic Farhat und Simon Leoff am Schülerwettbewerb „Erinnerung sichtbar machen“ der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet teilgenommen – und gewonnen (die AZ berichtete).
„Unser Ziel ist es, mit dem Film bei Menschen in unserem Alter Interesse zu wecken“, erklärt Matthias. Die Zwölftklässler sind sich einig, dass einzelne Schicksale einen leichteren Zugang zur Geschichte ermöglichen als abstrakte Fakten. Das haben sie bei ihrem Projekt selbst gespürt, wenn sie sich mit Zeitzeugen unterhalten oder Gegenstände, die die Zerstörung der Synagoge überstanden haben, in den Händen gehalten haben.
„Wenn man persönliche Geschichte erfährt, erhält die theoretische Geschichte eine ganz andere Bedeutung“, findet auch Claus Christian Speck, Geschichtslehrer am Willigis-Gymnasium, der die Wettbewerbsteilnahme der vier Schüler betreut hat. Durch sein Engagement für deutsch-israelische Jugendbegegnungen war er im Oktober 2017 auf den Wettbewerb aufmerksam geworden und bei den vier befreundeten Schülern des Geschichte-Leistungskurses schnell auf Begeisterung gestoßen.
Kurz darauf führte die Gruppe ihr erstes Zeitzeugengespräch – mit einem prominenten Mainzer: Ehrenbürger Monsignore Klaus Mayer, der Enkel des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, berichtete den Schülern eindringlich von den Schikanen, die er während der NS-Zeit erleiden musste.
Von den über zweieinhalb Stunden Filmmaterial müssen sich die Schüler für das Endprodukt auf den kurzen Ausschnitt beschränken, in dem der 95-Jährige schildert, wie die SA-Horde die Wohnung seines Großvaters stürmte. „Gottlob haben sie ihm persönlich nichts angetan und sind dann wieder abgezogen“, erzählt Mayer. Andere Mainzer Juden dagegen wurden am 10. November 1938 verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert.
Auch wenn die Ereignisse inzwischen 80 Jahre zurückliegen, suchen die vier Schüler bei ihrem Filmprojekt auch den Bezug zur Gegenwart. Es fehlt nur noch ein Monat bis zum Einsendeschluss, als Ende August die Demonstrationen und Ausschreitungen in Chemnitz die Nachrichten füllen, bei denen Hooligans auf offener Straße den Namen Adolf Hitlers grölen. Die Schüler entscheiden spontan, die aktuellen Ereignisse in ihr Projekt aufzunehmen.
Das Ergebnis ist ein zehnminütiger Dokumentarfilm, in dem animierte historische Fotos, Interviews mit Zeitzeugen und Experten, nachgespielte Szenen und aktuelle Bezüge äußerst professionell zusammenspielen. Damit konnten die Willigis-Schüler die Jury bei der Beurteilung der insgesamt 26 Einsendungen überzeugen – und sich über 5000 Euro Preisgeld freuen. „Einen Teil davon bekommt die Schule“, erklärt Franziska. „Damit kann die Fachschaft Geschichte zum Beispiel neues Unterrichtsmaterial anschaffen.“ Den Rest teilen die Schüler untereinander auf. Für ihren neuen Lebensabschnitt, der mit dem Abitur im nächsten Sommer beginnen wird, können sie das Geld gut gebrauchen.
Der Wettbewerb ist jetzt zwar vorbei, aber die Schüler hoffen, dass ihr Film noch viele Menschen erreicht: „Wir wollen dazu anregen, sich Gedanken zu machen, dass das Thema auch heute noch wichtig ist“, erklärt Simon. 1938 ist der Plan der Nationalsozialisten aufgegangen: Nur wenige haben ihre jüdischen Mitbürger gegen die brutalen Gewaltakte der Nationalsozialisten in Schutz genommen; die breite Mehrheit hat – sei es aus Gleichgültigkeit oder aus eigener Angst vor dem NS-Terror – weggeschaut.
Mit ihrem Film wollen die Willigis-Schüler die Zuschauer ermutigen, gegen Diskriminierung einzutreten. Geschichtslehrer Speck fasst zusammen: „Den Film anschauen, um das Wegschauen zu verhindern.“
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