Samstag,
17.06.2017 - 02:00
4 min
Gefallen 1943: eine Spurensuche - Klarheit nach über 70 Jahren

Von Michael Bermeitinger
Lokalredakteur Mainz

Ein Boot der Klasse IX in Lorient am Atlantik. Es gehört zur 2. Flotille, in der Richard Lang dient. Fotos: Lucie Faust (5), Sammlung Bermeitinger (1) ( Foto: )
MAINZ - Vergessen war Richard nie. Auch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht, wie die Bilder im Familienalbum seiner Schwester Lucie zeigen: Richard mit Feldstecher im Turm des U-Boots, dann im kleinen Dienstanzug mit Eisernem Kreuz und U-Bootabzeichen oder im Arbeitsdrillich mit lässig sitzendem Schiffchen, ernstem Blick und dünnem Bartflaum, der zeigt, wie jung er ist: 18, als er das erste Mal in ein U-Boot steigt, 22, als er auf U 523 stirbt.
1943 hat Lucie Faust ihren Bruder das letzte Mal gesehen, da verblasst auch manches. Doch dann bringt im letzten Jahr ihr Neffe eine kleine Schachtel aus dem Nachlass ihrer älteren Schwester. Voller Bilder, Schriftstücke, Zeitungsartikel – Richards U-Boot-Leben und sein Sterben. Und mit der Schachtel kommen die Fragen zurück. Denn Lucie hat nie erfahren, wie Richard gestorben ist. Doch 74 Jahre nach seinem Tod kann die AZ seine letzte Stunden klären.
Ein „etwas frisierter“ Kriegsbericht
In der Schachtel sind ein paar Schreibmaschinenseiten, die Abschrift eines Artikels, in dem Richard damals erwähnt wird. „Das sind unsere U-Boot-Männer“ titelt Kriegsberichter Karl Emil Weiß, und zu ihnen gehört auch „Tiefenrudergänger Richard L., 21 Jahre, Elternhaus in Mainz; nach Auslernen des Tischlerhandwerks Arbeitsdienst, 1939 freiwillig zur Kriegsmarine und fünf Feindfahrten mit dem U-Boot. Seither trägt er das EK 2.“
Am 16. Juni ist es 75 Jahre her, dass der Bericht in der Hessischen Landeszeitung in Darmstadt erschienen ist, dann noch eine Bildseite im „Illustrierten Beobachter“, doch der Kriegsberichter hat den Bericht etwas „frisiert“, weiß Lucie Faust: „Richard wollte zur See, aber nie zur Kriegsmarine.“
Anfang des Krieges wohnt die Familie zwischen Kirschgarten und Hollagässchen. Richard ist der Älteste der fünf Geschwister, Jahrgang ’21, Lucie, das Nesthäkchen, ist neun Jahre jünger. „Wenn er auf Heimaturlaub war, hat er über den Krieg gesprochen, aber nicht viel. Er war fröhlich, nie bedrückt.“ Und dann gibt es dieses Ritual, wenn der Heimaturlaub vorbei ist und der Bruder sich mit dem Seesack aufmacht zum Bahnhof: „Er ist den Kirschgarten hoch zum Weihergarten, hat sich noch mal rumgedreht und mir gewunken ... nur beim letzten Heimaturlaub nicht. Er hat sich nicht mehr rumgedreht.“
MAINZER SCHICKSAL IM 2. WELTKRIEG
Vor drei Wochen wurde in der Redaktion ein Umschlag mit einer Zeitungsseite aus dem Krieg abgegeben. Sie stammt aus dem „Illustrierten Beobachter“ von 1942, einer Wochenillustrierten aus dem Zentralverlag der NSDAP, und zeigt Bilder einer U-Boot-Feindfahrt. Lucie Faust, Jahrgang 1930, hatte die Seite abgegeben und erzählte, dass ihr Bruder Richard Lang, Tischler vom Kirschgarten in der Altstadt, einst an Bord war, der ein Jahr später 1943 im Atlantik den Tod fand. Und noch etwas stellte sich heraus: Lucie Faust hat nie erfahren, was damals passierte und wie ihr Bruder ums Leben kam. Wir begaben uns auf Spurensuche.
== Deutsche Dienststelle ==
Bei Fragen zu Gefallenen und Vermissten hilft die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen dt. Wehrmacht“ in Berlin auf 16.400 Quadratmetern über 56 Kilometer Akten. 2015 gingen allein 41.000 Anfragen ein.
== Deutsche Dienststelle ==
Bei Fragen zu Gefallenen und Vermissten hilft die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen dt. Wehrmacht“ in Berlin auf 16.400 Quadratmetern über 56 Kilometer Akten. 2015 gingen allein 41.000 Anfragen ein.
Hat er eine Ahnung? Nachdem 1942 die deutschen U-Boote die höchsten Versenkungszahlen erreichen, werden die Jäger zu Gejagten, kehren 1943 allein im Mai 43 Boote nicht zurück. „Er mochte auch den Kapitän nicht“, weiß die Schwester. Es ist Kapitänleutnant Werner Pietzsch, 26, der U 523 neu übernimmt – und es ist von Anfang an das, was Seeleute ein „unglückliches Boot“ nennen, eines, an dem das Pech klebt.
Wann Richard Lang, nun Bootsmannsmaat (Unteroffiziersrang), auf U 523 kommt, ermittelt derzeit die Deutsche Dienststelle/Wehrmachtsauskunftstelle in Berlin, aber wahrscheinlich ist es im Frühjahr ’43. „Richard hatte ein ungutes Gefühl“, so Lucie Faust, und er schreibt es am 1. August 1943: „In ein paar Stunden wird es losgehen ... ich weiß, dass es uns ... nicht rosig gehen wird.“
Schon drei Tage später ist das Boot wegen Defekts wieder zurück, und am Tag des erneuten Auslaufens, am 16. August, schreibt Richard das letzte Mal.
Am 25. August 1943 wird U 523 gestellt
Am 25. August wird U 523 westlich vom spanischen Vigo frühmorgens um 2.10 Uhr vom Zerstörer Wanderer und der Korvette Wallflower entdeckt und attackiert (42°03’ Nord – 18°02’ West). Jene Stunden schildern Überlebende in Gefangenschaft dem Marine-Geheimdienst – nachzulesen im Protokoll „Interrogation of Survivors“, das im Internet zu finden ist.
U 523 wird nicht versenkt, aber beim Versuch, das Boot zu verlassen, fallen 17 der 54 Männer im Kugelhagel der Briten – auch Richard.
Daheim erfährt die Familie zunächst nichts. „Ich habe noch am 8. September einen Brief an Richard geschrieben“, sagt Lucie Faust. Aber dann kommt irgendwann die Mitteilung, dass das Boot vermisst wird, und am 21. Oktober die Ankündigung, dass nun die Habseligkeiten Richards nach Hause geschickt würden. Verzweifelt wendet sich die Mutter an Kapitänleutnant Werner Winter, unter dem Richard auf U 103 gefahren ist, doch auch der Ritterkreuzträger, Chef der 1. Flotille in Brest, kann nur trösten.
Erst nach neun Monaten traurige Gewissheit
Im Januar 1944 schreibt schließlich die Flotille aus Lorient, dass 37 Mann überlebt hätten, es aber von Richard keine Nachricht gebe. „Trotz allen Schmerzes müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß mit einem Lebenszeichen Ihres Sohnes kaum noch zu rechnen ist.“ Und am 25. Mai 1944, auf Briefpapier mit schwarzem Rand und Eisernem Kreuz, gibt es die Gewissheit, „dass Ihr Sohn den Heldentod gefunden hat“.
Hohles Pathos. Und wie viele ihrer Klassenkameradinnen, die Vater oder Bruder verloren haben, streift auch Lucie, die 14-Jährige, eine schwarze Armbinde über. Im Brief heißt es weiter, dass „erst die Rückkehr der Überlebenden ... eine endgültige Aufklärung über die letzte Stunde Ihres Sohnes gibt“. Aber der Vater will nichts wissen, „es war vorbei für ihn“.
Und so bleiben die Umstände von Richards Tod jahrzehntelang im Dunkeln. Erst jetzt, als eine kleine Schachtel mit Fotos und Dokumenten auftaucht, als alte Fragen sich wieder stellen, werden sie geklärt.
Hier weiterlesen: Angst und Hoffnung - die letzten Stunden