„Grenzenlos Kultur“ auf der Mainzer Theater-Bühne U17 mit einer berührenden Performance zum Thema Tourette-Sydrom; dazu eine jüdische Familiengeschichte aus einem Schuhkarton
Von Fred Balz
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MAINZ - Mit zwei britischen Performance-Uraufführungen an einem Abend kann das „Grenzenlos Kultur“ Festival aufwarten, die innovativ und menschlich anrührend ausfallen. Den Auftakt im U17 macht „Touretteshero“ Jess Thom, eine junge Frau mit Tourette-Syndrom, einer neuropsychiatrischen Erkrankung, die sich in Tics äußert. Darunter versteht man spontane Zuckungen, Laute oder Wortäußerungen, vergleichbar mit Schluckauf. Obwohl sie Spasmen in den Rollstuhl zwingen, hat Jess Humor und Lebensfreude nicht verloren.
Dabei gerät ihr atemloser Beckett-Monolog „Not I“ zur Nebensache. Alles ist speziell: Die Bühne mit locker verteilten Sitzgruppen. Eine Rollstuhl-Hebebühne. Ihr schwarzes Kapuzenkleid mit Beleuchtung, die den Mund anstrahlt. Ihre Tics begannen mit sechs Jahren. Ab 20 gab es heftige Schübe. Doch Jess ist hellwach und kreativ im Umgang mit ihren Tics: Statt sich zu verletzen schlägt sie mit der Faust auf die Brust und stößt „nette“ Wörter wie „Biscuit“, „Sausage“ oder Tiernamen aus. Begleitet wird sie von Gebärdensprecherin Julia Cramer. Jess mag die existenzielle Dringlichkeit ihres Beckett-Textes und der Figur „Mouth“, die Matthew Pountney in Szene setzt und mit der sie eins wird. Film und Diskussion schließen sich an.
Die bemalten Lohntüten des Großonkels Ab
Danny Bravermans Lebensgeschichte des jüdischen Großonkels Abraham unter dem Titel „Wot? No Fish!!“ sollte bereits im Vorjahr stattfinden. Vom verstorbenen Onkel erbte er einen Schuhkarton mit bemalten Lohntüten seines Großonkels Ab, einem Schuhmacher, der diese freitagsabends seiner Frau Celie übergab. In 2000 Bildern aus 50 Jahren wird die Lebensgeschichte einer jüdischen Familie mit behindertem Sohn gezeichnet, die selbst in Bedrängnis nie aufgab. Das erste Lohntütenbild von 1926 zeigt lediglich Besen, Pfanne und Kochtopf, die die junge Ehefrau kaufen soll. Darauf folgen Liebesbotschaften, ein Sturz von der Leiter und immer wieder die schöne Gattin mit roter Nase, bei der schlanke Knie, hübsche Kleider und High Heels als Accessoires hervorstechen. Die Karikaturen werden zunehmend raffinierter und nach 1960 sogar farbig. Sexuelle Anspielungen wechseln sich ab mit Albernheiten und Alltagsproblemen. Mit den Kindern ändern sich Tonart und Themen der Bilder, die ernster (Krieg) und existentieller (Armut) werden. Ein teurer Mantel, Babyschreien, die quirlige Hausfrau, der erschöpfte Gatte, kurze Trennung und Scheidungsfantasien folgen. Der 3. Sohn (*1936) leidet an Autismus und bleibt zeitlebens Problemkind. Hitler, Wasserrationierung, Fliegeralarm, Fluchtpunkt Jerusalem und der lang ersehnte D-Day. Nach dem Krieg Sohn Larry in Kranken- und später Irrenhaus, nur sonntags Besuchszeit, Rheumatismus, erster Sommerurlaub 1950. Am 11. März 1966 betritt Erzähler Danny Braverman als Kind den Lohntütenkosmos. Text: „It’s just Ab playing with the kids“.
Selbst als Celie 1979 an Krebs erkrankt, malt er sie noch jugendlich mit roter Nase und dürren Beinen. Aber dankt Gott, dass sie ein Jahr länger leben durfte als diagnostiziert.
Nach ihrem Tod 1981 endet die Bilderflut, und Ab stirbt vier Jahre später. In der anrührenden Schluss-Animation gehen beide Arm in Arm einen steinigen Weg bergauf.