Die Mainzer Kathedrale steckt voller, hinter Grabmalen verborgener Geschichten: Die Historikerin Susanne Kern hat die Inschriften in einer opulenten Reihe zu neuem Leben erweckt.
VIER BÄNDE
Die Herausgabe der 2010 begonnenen Reihe zu den der Inschriften des Mainzer Doms und des Dommuseums ist eine Gemeinschaftsarbeit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur und des Instituts für Geschichtliche Landeskunde. Alle vier mit zahlreichen Abbildungen versehenen Bände (Reichert Verlag) sind in einem Schuber für 29 Euro unter anderem im Dommuseum erhältlich. Die Einzelhefte kosten 12 bis 14 Euro.
MAINZ - Als das Domkapitel am 31. Oktober 1472 zu einer Krisensitzung zusammentrat, schwante den Kirchenmännern nicht Gutes. Der Apotheker Johann Schwitzer lag im Sterben, erdolcht von Domkantor Ewald Faulhaber von Wächtersbach. Vor seiner Bluttat soll der Kantor schon in das Haus seiner Konkubine eingedrungen sein, deren Ehemann mit dem Messer bedroht und das Gesinde verprügelt haben.
Faulhaber wurde sofort suspendiert, in erzbischöflichen Gewahrsam genommen, während die Frau des Ermordeten die Leiche öffentlich auf dem Markt aufbahren ließ. Der irdischen Gerechtigkeit fiel der von Erzbischof Adolf von Nassau II protegierte Täter dennoch nicht anheim. Auf Geheiß Kaiser Friedrichs III musste das Domkapitel Faulhaber 1476 wieder in seine Pfründe einsetzen, wogegen die Bürger erfolglos rebellierten.
Verborgene Geschichten zum Leben erweckt
Die Mainzer Kathedrale steckt voller, hinter Grabmalen verborgener Geschichten, die Historikerin Susanne Kern in der nun vollständig vorliegenden vierbändigen, üppig bebilderten Reihe über die Inschriften des Mainzer Doms wieder zum Leben erweckt. In Band drei, der die Zeit von 1435 bis 1598 umreißt, findet sich die Abbildung der schlichten, in den Boden des südlichen Kreuzgangflügels eingelassenen Grabplatte des unglücklichen Apothekers, „der durch eine nächtliche Verwundung ermordet wurde (...) Jesus führe ihn zu den Freuden des Himmels“. Den kargen Worten lässt die Autorin einen spannenden Exkurs über das unselige Treiben des Domkantors folgen. Die in für Laien verständlicher Sprache aus dem Latein dechiffrierten und in ihren historischen Kontext eingebetteten über hundert Grabdenkmäler – Platten, Epitaphe, Wandteppiche – vom 9. bis zum 17. Jahrhundert vermitteln nicht nur Kunst-, -Kirchen- und Mentalitätsgeschichte des Mittelalters, sondern lassen die Verblichenen hinter ihren in Sandstein gemeißelten Nachrufen plastisch hervortreten. Wie etwa Domdekan Bernhard von Breydenbach, der sich 1483 zu einer Pilgerfahrt nach Jerusalem aufmachte und aus dem Heiligen Land neben Reliquien und Spezereien mutmaßlich auch ein Äffchen nach Mainz mitbrachte. Seine an der Wand im nördlichen Querhaus zwischen Gotthardkapelle und Sakristei aufgestellte Grabplatte zeigt – einzigartig zu der Zeit – nicht den agierenden Würdenträger, sondern in drastischem Naturalismus einen entseelten Körper.
Aus dem Totenreich blättert sich so die wechselvolle Geschichte des Doms mit lesenswerten Querverweisen und einem erklärenden Glossar auf – vom „Bonifaziusstein“ (um 847) als ältesten Inschriftenträger bis zur Gruftplatte von Erzbischof Johann Schweickard von Kronberg (1626), die schon bedenkliche Abplatzungen in der Sandsteingravur aufzeigt.
Aber eigentlich kann man an jeder Stelle in einen der vier chronologisch geordneten Inschriften-Führer für Alle eintauchen, um die auf den ersten Blick verschlossen wirkende Trauer- und Gedenkkunst unter dem Dach des Doms mit neuen Augen zu betrachten. Um die Besucher des Gotteshauses an Ort und Stelle mit Basisinformationen zu den Grabdenkmälern zu versorgen, wären Hinweistafeln oder das Anbringen von QR-Codes hilfreich, meint Susanne Kern. „Je mehr die Leute verstehen, desto größer ist ihr Interesse an der Memorialkultur.“
Dass auch sakrale Inschriften auf die falsche Fährte führen können, belegt die Kunsthistorikerin an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur mit ihrer Deutung des Memorienportals an der Nordwand des Doms, das von den Lettern „Heiliger Martin“ überwölbt wird. Das steinerne Brustbild eines Erzbischofs trägt ein offenes Buch in der Rechten, in der Linken hält er eine Miniaturkirche. Kern mutmaßt, dass es sich bei der Figur gar nicht um Sankt Martin, den Schutzpatron des Doms, sondern vielmehr um seinen Erbauer, Erzbischof Willigis, handelt.