Die Bonifaziustürme: Monumente der Moderne mit Höhen und Tiefen
Die 1978 eröffneten Zwillingstürme prägen das Bahnhofviertel. Sie waren Schauplatz von Firmenpleiten und Treppenläufen. Heute sind die „Betonspargel“ wieder bei Mietern gefragt.
Von Michael Jacobs
Lokalredakteur Mainz
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MAINZ - Mit sanftem Ruck hält der Fahrstuhl in Etage 15 von Turm A. Im schnörkellos schwarzweiß gestylten Loft des Architekturbüros GHBA blicken die Mitarbeiter konzentriert auf PCs und Pläne, obwohl die Aussicht auf die Stadt zu ihren Füßen atemberaubend ist. Die 2017 von Oppenheim in beste Mainzer Höhenlage umgesiedelten Industrieplaner betreuen Projekte in ganz Deutschland. Vom Neubau des Winterdienstes für die Frankfurter Fraport bis zu Kindertagesstätten des Darmstädter Pharmaunternehmens Merck. Auf einem Tisch im funktional verspielten Besprechungsraum thronen zwei Pappkarton-Doubles der Bonifaziustürme vor einer kleinen Ausstellung über die Historie der Hochhäuser. Architekten haben einen besonderer Blick für die brachiale Grazie der Zwillingstürme, die dem Bahnhofsviertel einen Mini-Hauch von Manhattan verleihen. Immerhin überragen die graugläsernen Wolkenkratzer mit einer Höhe von knapp 95 Metern alle Gebäude von Mainz und belegen im Vertikal-Ranking bundesweit Rang 99.
Die Siebziger huldigen dem „Brutalismus“
Über die Ästhetik der „Beton-Spargel“ als Top-Adresse der Stadt lässt sich indes streiten. GHBA-Teamleiter Achim Gehbauer sieht die Türme als Kinder ihrer Zeit, die mit allen Ecken und Kanten dem in den frühen Siebzigern populären Baustil des „Brutalismus“ huldigten: Rohe, üppig dimensionierte Fassaden aus Beton, deren Tragekonstruktion nicht hinter filigranen Verblendungen versteckt werden, sondern in ihrer Urform außen sichtbar und unbehandelt bleiben – bis hin zu offenen Spuren der Ausschalungen. Nicht unbedingt fachwerkschön, aber ungekünstelt und ehrlich. Und in gewisser Weise ist auch der Baugrund, auf dem die Türme heute ruhen, Resultat eines globalen, von Nazideutschland angezettelten Brutalismus. Nach den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs bleibt von den Häuserblöcken um den Bonifaziusplatz nur eine von Trümmern leer geräumte Brache übrig, die im Nachkriegs-Mainz als Parkplatz genutzt wurde.
Auf der 8000 Quadratmeter großen Freifläche will die Stadt ein mächtiges Monument für Modernität und wirtschaftlichen Aufschwung setzen. Doch schon 1971, als der Bebauungsplan vorliegt, deutet sich an, dass die hochfliegenden Pläne immer wieder mit der Wirklichkeit kollidieren. Ein erster, als Sitz der Zentralen Transportleitung der Deutschen Bahn (ZTL) gedachter Entwurf, sieht einen 130 Meter hohen, scheibenartig gegeneinander versetzten Hochhaus-Koloss vor, in dessen dreigeschossiger Sockelzone neben Restaurants und einer Bank auch ein Schwimmbad untergebracht werden sollte. Nach Protesten der Bevölkerung und des Städtebaubeirats wird der Baukörper um 30 Meter gestutzt und in zwei miteinander korrespondierende Einzeltürme aufgegliedert. In die vom Mainzer Architekten Johannes Krahn – unter anderem verantwortlich für den Wiederaufbau der Frankfurter Paulskirche und des Städel – konzipierten Doppeltürme sollen nun ein Firstclass-Hotel sowie Bundesbehörden einziehen – so jedenfalls der Plan. Die ZTL ist mittlerweile als potenzieller Mieter wieder abgesprungen. Während Bürgermeister Hans Sommer das Projekt als „Auftakt zur städtebaulichen Aufwertung“ feiert, sammelt die „BI Bonifaziusplatz“ 800 Unterschriften gegen die Wolkenkratzer. Man fürchtet unter anderem, dass die Betongiganten mit ihrem mächtigen Schattenwurf die Neustadt verdunkeln.
Dem Mainzer Himmel recht nah: Panoramablick vom Dach des knapp 95 Meter hohen Turms A der Bonifaziustürme über die Altstadt und den Rhein. Foto: Laura-Isabelle Hans
( Foto: Laura-Isabelle Hans)
Mit dem Guss der Bodenplatten beginnen im Herbst 1975 die Bauarbeiten. Im Januar 1976 wachsen die Türme um die Wette, 2,5 Meter pro Tag. Hydraulikpressen schieben die Schalung nach oben, 160 rumänische Arbeiter, Eisenflechter, Betongießer treiben die Fertigteilummantelung in die Höhe. Ende März setzen Facharbeiter im neunten Stock, wo die schweren technischen Anlagen installiert werden, besonders starke Fertigdecken ein. Ans zehnte Geschoss gekrallte Kräne hieven die Betonwannen empor, bis im Gleitverfahren der 24. Stock erreicht ist. Im Herbst 1976 stehen die grauen Riesen. Als man Ende Oktober Richtfest feiert sind 7000 Kubikmeter Beton und 1000 Tonnen Stahl verbaut, recken sich 200 000 Kubikmeter umbauter Raum in den Himmel. Die Eröffnung der neuen urbanen Wahrzeichen 1978 zieht gleich finanzielle Überflieger an. Auf der Zinne von Turm B prangt klotzig der Schriftzug der IBH-Holding von Horst-Dieter Esch, der den Wolken nah die Zentrale seines Baumaschinenkonzerns einrichtet. Durch den Aufkauf kriselnder Fabriken bringt er es 1980 weltweit zum drittgrößten Unternehmer in der Branche mit zeitweise 15 000 Beschäftigen. Der jähe Absturz folgt mit der anhaltenden Flaute in der Bauindustrie. Im November 1983 ist der Multimillionär bankrott und wandert wegen Betrugs, Untreue und Konkursverschleppung von seinem Mainzer Firmen-Hochsitz für secheinhalb Jahre hinter schwedische Gardinen.
Dem Mainzer Himmel recht nah: Panoramablick vom Dach des knapp 95 Meter hohen Turms A der Bonifaziustürme über die Altstadt und den Rhein. Foto: Laura-Isabelle Hans Foto: Laura-Isabelle Hans
Bewehrungsarbeiten im Untergeschoss. Über der Baugrube befand sich nach dem Krieg ein großer Parkplatz. Foto: Stadtarchiv Foto: Stadtarchiv
Der Kern des Betongerüsts steht. 1976 wachsen die Türme 2,5 Meter pro Tag in die Höhe. Foto: Stadtarchiv Foto: Stadtarchiv
Die GHBA-Architekten Achim Gehbauer und Denise Penninger-Sgro mit einem Pappmodell der Türme. Foto: hbz/Stefan Sämmer Foto: hbz/Stefan Sämmer
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Ziemlich verlustreich sind auch die Rangiermanöver der Bahn, die ihre Zentrale Verkaufsleitung (ZVL) spontan von Frankfurt in die entstehende Mainzer Turmlandschaft verlegen will und, ohne genau ins Kleingedruckte zu schauen, überhöhte Mietverträge unterschreibt. Als die ZVL 1978 Turm A bezieht, stellt sich heraus, das nur ein Treppenhaus vorhanden ist. Der brandschutzrechtlich nötige Einbau eines zweiten Fluchtwegs bringt weitere Mehrkosten in Höhe von 1,6 Millionen Mark. Zwanzig Jahre residiert die Bahn in ihrer komfortablen Betonburg. Nach ihrem Auszug 1998 beginnt der temporärere Niedergang von Turm A. Bis 2007 steht das Bürogebäude leer. Zu Beginn der 2000er ist die Sogkraft der Twintowers mächtig gesunken, 20 000 Quadratmeter bleiben bei einer Gesamtbürofläche von 34 400 Quadratmetern ungenutzt. Um dennoch etwas Bewegung in die vakanten Geschosse zu bringen, steigt im November 2004 der erste Mainzer Treppenlauf.
30 Hochhausathleten sprinten die 600 Stufen 88 Meter hinauf in den 24. Stock und wieder zurück. Der Sieger schafft die Türmetour in 4,24 Minuten. Sportiv geht es weiter, als zum 100. Geburtstag des FSV Mainz 05 im April 2005 eine 722 Quadratmeter große Glückwunschplane über zehn Etagen an Turm A gehisst und fast vom Wind wieder verweht wird.
Nach umfassender Sanierung und Brandschutzmodernisierung sind die Türme, zu derem baulichen Gesamtensemble auch die Anna-Seghers-Bücherei und der benachbarte Rewe-Markt gehören, mittlerweile wieder en vogue und nahezu ausgebucht. 2012 belegt das Präsidialamt der Universität Koblenz-Landau drei Etagen in Turm A. Zu den Mietern zählen neben der Bahn oder dem Verkehrsüberwachungsamt der Stadt auch viele junge Mainzer Technologie und Start-up-Firmen, die in exponierter Höhenlage an Zukunftsprojekten tüfteln. Seit April 2016 nistet das junge Internet-Programm von ARD und ZDF „Funk“ im 22. Stock des Watchtowers, wo ein Jahr zuvor eine Ausstellung vor den Gefahren digitaler Überwachung warnte.
Als der Fahrstuhl auf Etage 15 zur Abfahrt hält, verströmen die luftig hochgereckten Gitterriegel der Papp-Modelle beim Blick zurück sogar etwas architektonischen Esprit. Man muss die Türme nicht mögen oder gar ihren Abriss forden, wie 2015 die Teilnehmer eines Bürgerforums zum Städtebau. Sie bleiben vitale Monumente der Moderne in Mainz.