Der Priester ist eine Frau: Landesjugendchor und -orchester führen in Mainz seltene Bernstein-Komposition „Mass“ auf
Zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein wurde in Mainz seine Messe („Mass“, 1971) aufgeführt: eine überwältigende Aufführung mit aufregender Musik und einem provokativen Konzept.
Von Dietrich Stern
„Mass“ mit massivem Aufgebot: An der Aufführung in der Alten Lokhalle wirken neben der Solistenriege auch Landesjugend-Chor, -Blasorchester sowie -Jazzorchester Rheinland-Pfalz mit. Das Thema kreist um Religiosität und Glaubenszweifel.
(Foto: hbz/Kristina Schäfer )
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
MAINZ - Als Dirigent war Leonard Bernstein immer ein Ereignis. Seine Bedeutung als Komponist findet immer noch zu wenig Würdigung. Zum 100. Geburtstag Bernsteins hat der Landesjugendchor die Messe von 1971, schlicht „Mass“ genannt, erarbeitet. In einer überwältigenden Aufführung gelingt es, die aufregende Musik und das provokative Konzept dieses Musiktheaterwerks herauszustellen.
Bernstein konfrontiert die Texte der katholischen Messe mit der gesellschaftlichen Realität, in der einem jeder Glaube verloren gehen kann. Überzeugend transportiert die lettische Regisseurin Rezija Kalnina die kritische Stimmung der frühen Siebziger in die heutige Zeit. Junge Leute, immer unterwegs, immer mit dem Smartphone beschäftigt – so tritt der Chor auf, und etabliert damit sofort die Szene in der Alten Lokhalle. Das erste Kyrie kommt vom Band und klingt eher nach schrägem religiösen Rummel als nach echtem Gottesdienst. In scharfem Kontrast versucht ein „Celebrant“, wahrhaftige Versenkung und Nachdenklichkeit zu beschwören. Mit einem zynisch-poppigen „Halleluja“ setzt der Chor dagegen noch eins drauf. Der Priester oder „Celebrant“ ist, anders als bei Bernstein, eine Frau.
Die syrische Mezzosopranistin Dima Orsho verkörpert eindrucksvoll die Suche nach einer wahren Spiritualität, die sich immer wieder in Zweifeln bricht. In ihrer Stimme riskiert sie unglaubliche Grenzgänge zwischen klassischem Sopran und tiefer Alltagsstimme, die sowohl orientalische wie Blues- und Pop-Hintergründe hat. Beim Schrei nach Frieden geht die Sängerin über jede Grenze. Man glaubt es ihr zutiefst.
Aus vier hervorragenden Sängern besteht die lettische Gruppe „Framest“. Sie stellen als „Street Singers“ alles Religiöse in Frage und verführen die Masse zu gedankenlosem Konsum und Hedonismus. Den Spagat zwischen Musical und Operndrama leisten sie stimmlich und schauspielerisch souverän.
Großartig ist die präzise und schlanke Begleitung des Orchesters, das von Bassem Akiki, einem aus dem Libanon stammenden und in Polen tätigen Dirigenten, unbestechlich klar und sicher geleitet wird. Der Landesmusikrat hat hierzu die Kräfte seines Jugendblasorchesters und der „Phoenix Foundation“ aus dem Jugendjazzorchester gebündelt. Gerne hätte man allerdings die Namen etwa der coolen Schlagzeuger, des Harfenisten, Gitarristen oder der Sologeigerin erfahren, von den Bläsern in dieser „Kammerfassung“ ganz zu schweigen.
Hauptperson bleibt aber der Landesjugendchor, den Andreas Kettelhut einstudierte. Er beherrscht eine atemberaubende Spannweite zwischen zart schwebendem, ätherischem Klang und härtestem Attacca-Gesang. Unerhört, wie aggressiv der Chor das „Don nobis pacem“ herausstößt. Die jungen Sänger, die ja noch Lernende sind, leisten auch im Darstellerischen Großartiges. Das ist kein „Opernchor“, sondern eine rückhaltlos sich ins Spiel werfende Masse, die sensationell gut singt. „Standing ovations“ für eine Aufführung, die jede große Bühne in Deutschland zieren würde.