Carrefour, Massa, Real - jetzt Kaufland: Ein Rückblick
Mit dem Real-Aus in Mainz geht eine Ära zu Ende. Doch die Erinnerungen wandern auch zurück zu den Vorgängern - dem französischen „Carrefour“ und dem rheinhessischen „Massa“.
Von Michael Bermeitinger
Lokalredakteur Mainz
Am Anfang „Carrefour“, dann „Massa“, hier noch „Real“ - in Zukunft „Kaufland“.
(Foto: Sascha Kopp)
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MAINZ - Erinnern Sie sich noch an „Carrefour“? An die Rotweinstraße wie eine Fahrt durch Frankreich, den Duftrausch der großen Käsehütte und die Fischtheke mit dem Artenreichtum der sieben Weltmeere? Das ist 1977 eine neue Einkaufsdimension für die Mainzer. „Esbella“ in Mombach und „Wertkauf“ in Weisenau sind groß, aber „Carrefour“ ist mehr als schiere Größe, wenn auch die Zahl von 60 Kassen einen Service-Maßstab setzt, der nie mehr erreicht wird. „Carrefour“ ist nicht purer Luxus, sondern ein riesiger Markt mit Stil. Der Slogan: „Leben wie Gott in Frankreich. Ohne daß es die Welt kostet“.
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„Carrefour“, das ist der Vorvorgänger von „Real“ im Gutenberg-Center in Bretzenheim, der seit 23. Juni dicht ist. Nun übernimmt „Kaufland“, der Blick richtet sich neugierig nach vorn, aber gerade in den letzten Tagen hat mancher Kunde, auch mancher altgediente Mitarbeiter die Gedanken zurückschweifen lassen in jene Zeiten, da die Mainzer hier in Bretzenheim das Genießen lernen sollen. Doch am Anfang herrscht nur Chaos.
Am Eröffnungstag von „Carrefour“, dem 24. November 1977, sind alle Zufahrtsstraßen verstopft, es gibt kilometerweise Blech am Stück, was dafür sorgt, dass nur wenige Besucher den neuen Markt erreichen. Die Eröffnung versinkt auf allen Seiten im Frust. Eine Premiere wie ein Omen. Dabei hat man so viel vor.
Die „Carrefour Interkaufpark GmbH“ ist eine gemeinsame Tochter von Carrefour in Frankreich, heute zweitgrößtes Einzelhandelsunternehmen Europas, der Kölner Supermarktkette Stüssgen (heute Rewe) und dem belgischen Lebensmittelriesen Delhaize. Wie einst Napoleon will man von Mainz aus Deutschland erobern. Dazu sollen an den Rändern der Großstädte Selbstbedienungs-Warenhäuser entstehen.
Als die Pläne für Bretzenheim an der Kreuzung (franz. Carrefour) zwischen Mainzer Ring und der heutigen Koblenzer Straße bekannt werden, formiert sich eine Bürgerinitiative. Sie fürchtet den Tod des kleinen Einzelhandels und sieht bei 2500 Parkplätzen für den Stadtteil ein Dauerverkehrschaos aufziehen. „Ein Superparkplatz mit gut ausgebauten Zu- und Abfahrtsstraßen“, verspricht „Carrefour“, aber die Koblenzer Straße ist noch nicht einmal angedacht. Der Verkehr von und zum „Carrefour“ fließt also über die Marienborner Straße oder über Essenheimer Straße und Ostergraben.
Das Projekt ist beachtlich: Grundstück 11.0000 Quadratmeter, Gesamtnutzfläche 27.000 Quadratmeter, Gesamtverkaufsfläche 18.000 Quadratmeter – davon Lebensmittel 5000 Quadratmeter, Non-Food 8000 Quadratmeter, Baumarkt 2000 Quadratmeter; Tankstelle, Autowaschstraße, Reifen- und Autoservicecenter, zwei Imbissstände, Kino für Kinder, Friseur, Reisebüro, Wiener Café, Bierbrunnen, SB-Gaststätte.
Ein Einkaufserlebnis im wahrsten Sinne des Wortes
Die Stadt tut sich schwer mit der Entscheidung, aber Jobs und zu erwartende Gewerbesteuereinnahmen geben den Ausschlag. Und nach dem Baustart im Frühjahr 1977 geht es blitzschnell. Sieben Monate später wird kurz vorm ersten Advent eröffnet, am Vorabend mit Empfang für Mainzer Prominenz, mit Hofsängern und kaltem Buffet. „Ebenfalls eingefunden hatten sich auch einige Mitglieder der Bürgerinitiative gegen das Einkaufszentrum. Die prophezeiten Störungen blieben aus. Konsumiert wird immer“, schreibt die AZ. Aber das bleibt das einzig Positive.
„Ein Chaos jagt das andere, eine Hiobsbotschaft löste die nächste ab. Bilanz am Abend: Verärgerte Kunden, magere Kassen und Rätselraten, ob es wohl künftig besser wird.“ So die AZ nach dem Eröffnungstag, der schon schlecht beginnt. Eine Stunde vor der Premiere platzt auf der A60 zwischen Marienborn und Hechtsheim in Richtung Weisenau bei einem Lastzug ein Reifen, worauf die Zugmaschine die Mittelleitplanke durchbricht, auf 30 Metern zerstört und einen entgegenkommenden Pkw rammt.
Niemand wird verletzt, aber die Autobahn ist erst mal voll gesperrt, weshalb bei Carrefour nur 500 Besucher gezählt werden. Später ist der Andrang auf den Zufahrtsstraßen so groß, dass Autobahnauffahrten gesperrt werden müssen und viel zu wenige Kunden ans Ziel kommen. Carrefour-Direktor Paul Gufert erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei, die „durch ungenügende Verkehrslenkung“ schuld sei, dass kaum ein Auto auf die Parkplätze fahren könne: „Uns entsteht dadurch stündlich ein Einnahme-Ausfall von mindestens 100.000 Mark, was unsere Datenverarbeitungsanlage einwandfrei nachweist.“
Aber nach Tag eins darf man das Schlagwort vom „Einkaufserlebnis“ wortwörtlich nehmen. Natürlich essen jetzt nicht alle Mainzer statt Forelle Schwertfisch, statt dem Champignon Camembert vom Spar-Laden einen Saint Marcellin aus der Dauphiné oder tauschen zu den Festtagen den Kupferberg gegen Pommery, Moët & Chandon, Veuve Cliquot brut (oranges Etikett) oder Demi Sec (silber). Aber sie probieren mal was, genießen die Atmosphäre.
Dennoch scheitert „Carrefour“. Und zwar genau an dem Problem, das Stüssgen-Vorstandschef Wickern bei der Voreröffnung skizziert. So werde die Expansion in Deutschland nur gelingen, wenn nach Novellierung von Bundesbaugesetz und Baunutzungsordnung noch Standorte für größere SB-Warenhäuser freigegeben würden. Aber genau diese Regelungen werden verschärft. Und ohne Expansion macht der Mainzer Markt keinen Sinn.
Statt französisch nun rheinhessisch
Der „Spiegel“ schreibt im März 1979 zum „Carrefour“-Aus, dass „das einzige realisierte Projekt der deutsch-französischen Liaison in Mainz-Bretzenheim (Umsatz 1978: 107 Millionen Mark)“ schon einen Käufer gefunden habe: „Karl-Heinz Kipp, Chef der mit knapp zwei Milliarden Mark Umsatz größten bundesdeutschen Verbrauchermarkt-Gruppe Massa.“ Statt französisch wird’s rheinhessisch. Massa sitzt in Alzey.
Am Donnerstag, 5. April 1979, sind die Straßen nach und durch Bretzenheim erneut ein einziger Stau, aber diesmal endet die Eröffnung nicht im Chaos und die Beziehung zwischen Mainz und „Massa“ hält viele Jahre. Man geht „bei die Massa“ oder „bei de Massa“ – wobei sich die Gelehrten streiten, was der Mainzer nun wirklich gesagt hat.
Kipp übernimmt das gesamte Sortiment, und so gibt es noch lange die reiche Champagner-Auswahl, die Rotweinstraße vom Burgund bis ins Languedoc, die Sportabteilung mit Lacoste-Hemden, und auch die Käse-Hütte bleibt. Allerdings findet man nun auch und viele Produkte der günstigen „Massa“-Eigenmarke „Bola“, abgeleitet von Kirchheimbolanden dem Standort der Produktion. Solche preiswerten Eigenmarken sind damals eigentlich Sache der Discounter, aber weil die damit gute Geschäfte machen und den Supermärkten viele Kunden abnehmen, gehen auch diese Konzerne dazu über. Heute gilt Rewe als Vorreiter, der 1982 mit 28 Produkten unter dem Label „Ja!“ startet (heute 500), aber „Massa“ ist mit „Bola“ viel früher dran.
Armin Burkart, früherer Lokalchef der AZ in Alzey und ein sehr guter Kenner der „Massa“-Geschichte, weiß: „Karl Heinz Kipp hatte in Kirchheimbolanden eine Eigenproduktion aufgebaut. Die Bola-Produktion begann mit der Kaffeerösterei, setzte sich aber unter dem Druck zur verlässlichen Mengenbeschaffung anderer Artikel fort.“ Das habe ihm Kipp einmal so erläutert, und dieser habe mit großem Stolz Besucher selbst durch die Produktion geführt. „Neben der Rösterei gab es die Bola-Wurst- und Fleischproduktion, Bola-Brot- und Backwaren, und die Bola-Getränke GmbH hat Mineralwasser abgefüllt.“
Und Kipp ist findig. „In der rheinhessischen Weinkrise hat er mit seiner Abfüllanlage die damalige Winzergenossenschaft Westhofen vor der Insolvenz gerettet“, so Armin Burkart. Die hätte auf ihrem Wein gesessen, aber Kipp habe ihn aufgekauft und in Kibo auf Bierflaschen mit Kronkorkenverschluss abgefüllt. „Die gingen weg wie warme Semmeln, so preiswert waren die Rheinhessen noch nie besoffen.“ Später sei noch die Bola-Frost in Gimbsheim hinzugekommen.
Findig, akribisch und ein kühler Rechner, Kipp speckt ab, solange es der Kunde nicht merkt. Statt 60 gibt es nur noch 48 Kassen im Bretzenheimer Markt, und die werden insbesondere donnerstags gestürmt, wenn in der AZ in Mainz und ganz Rheinhessen die Seite mit den neuen Sonderangeboten drin ist. Dann stehen auf dem Parkplatz schon früh am Morgen die großen Kombis von Opel und Ford, die Rekord und Granada, der ein oder andere Metzger-Benz, Bullis und Transit und an den Kassen ist Großkampftag. Dann kommen viele Inhaber kleiner Dorfläden, für die manches Sonderangebot günstiger ist als im Großhandel, und sie ziehen ganze Schleppzüge an Einkaufswagen hinter sich her.
An solchen Tagen trägt ein guter Kassierer oder eine gute Kassiererin auch schon mal 25.000 Mark am Abend in die Hauptkasse. Und es wird noch lange nicht gescannt, sondern jeder Preis mit flinken Fingern eingetippt. Die Profis haben Hunderte Preise im Kopf und natürlich die Sonderangebote. Deshalb sind jene Kunden unbeliebt, die jedes Produkt einzeln aufs Band legen, um die Kassiererin kontrollieren zu können, was sie eintippt.
Karl-Heinz Kipp alias „Mister Massa“ kontrolliert höchstpersönlich
„Die Massa“ brummt, und damit auch jeder mitzieht, schaut Karl-Heinz Kipp immer wieder höchstpersönlich vorbei. Dann schaut er, ob die Regale gut eingeräumt, die Sonderangebot-Inseln ordentlich bestückt und die Orangen appetitlich aufgestapelt sind. Und nebenbei raunzt er den Kassierer an, der sein weißes Kittelchen nicht an hat.
Ende der 80er verkauft Kipp seine Massa-Märkte an die Metro. Die betreibt sie weiter, bis sie Mitte der 90er peu à peu in Real-Märkte umgewandelt werden. Aus dem Massa-Center wird das Gutenberg-Center. Der neue Betreiber gibt sich alle Mühe, das Haus in bekannter Atmosphäre weiterzuführen, aber mit den Jahren und den Umbauten wirkt das Haus in Bretzenheim nicht mehr so klar strukturiert, kommt mehr und mehr in die Jahre. Man gewinnt den Eindruck, dass nicht mehr alles, was nötig gewesen wäre, investiert wird.
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Nun ist diese Geschichte seit dem 23. Juni beendet. Mit „Kaufland“ kommt der Betreiber Nummer 4, aber es wird kein fließender Übergang im laufenden Betrieb wie einst von „Carrefour“ auf „Massa“ und wiederum auf „Real“. Erstmals wird für Monate geschlossen, um den ganzen Markt sanieren und umstrukturieren zu können. Nach 45 Jahren, nach „Carrefour“, „Massa“ und „Real“ wird ein neues Kapitel aufgeschlagen – und wie es aussieht, sind auch die bisherigen festangestellten Mitarbeiter dabei. Eine Kassiererin sagte am vorletzten Tag als Abschiedsgruß: „Wir sehen uns wieder bei Kaufland.“