Yael Scharf hat kürzlich erfahren, dass ihr früh verstorbener Vater Bruno Langstädter als Kind in Ingelheim lebte. Die Israelin besucht nun Orte zu ihrer Familiengeschichte.
INGELHEIM. „Zu meinen Töchtern habe ich gesagt, ich möchte noch in diesem Leben dahin, wo mein Vater gelebt hat.“ Yael Scharf steht mit ihren beiden Töchtern Orit und Liat am Synagogenplatz in Ober-Ingelheim, wo seit 1992 eine Gedenkstele an das Schicksal der Ingelheimer Juden erinnert. Bis vor wenigen Monaten wusste die 80-Jährige nicht, dass ihr Vater Bruno Langstädter einen Teil seiner Kindheit in Ingelheim verbracht hat. „Die Eltern haben zu Hause nichts erzählt“, berichtet Yael Scharf. Über Deutschland sei nie gesprochen worden. „Gar nichts wusste ich die ganzen Jahre“, erzählt sie in fließendem Deutsch.
Yaels Vater war ein Neffe Ludwig Langstädters, der seit 1908 Religionslehrer in Ober-Ingelheim und Kantor der dortigen Synagoge war. Nachdem Brunos Vater Heinrich im Ersten Weltkrieg gefallen war, kam der Junge im Alter von neun Jahren zu seinem Onkel Ludwig, wo er mit seinem Cousin Kurt Langstädter aufwuchs. In Ober-Ingelheim besuchten beide Jungen die Höhere Bürgerschule. 1922 zog Bruno nach Frankfurt, um dort eine Lehre zu machen.
„Wir wussten nicht, ob er überlebt hat“, bemerkt Klaus Dürsch, Vorsitzender des Deutsch-Israelischen Freundeskreises (DIF), der das Schicksal der Ingelheimer Juden seit vielen Jahren erforscht und dokumentiert. Die Spur Bruno Langstädters hatte sich nach dem Wegzug aus Ingelheim verloren. Vor einigen Monaten indes ergab sich unvermittelt ein Kontakt zu Brunos Tochter, die in Israel lebt. Auf diese Weise erfuhr Klaus Dürsch, dass Bruno Langstädter 1936 mit seiner Ehefrau ins britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert war.
„Meine Eltern hatten es nicht leicht“, sagt Yael Scharf. „Sie haben viel gearbeitet und sind jung gestorben.“ Bruno Langstädter starb 1971 mit 63 Jahren, Yaels Mutter wurde nur 56 Jahre alt. Ihre Eltern hatten sich in den 1930er Jahren in einem landwirtschaftlichen Camp kennengelernt, das der Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina diente.
Nach dem Tod der Eltern waren für Yael zunächst die Quellen versiegt, die Auskunft über das Leben in Deutschland geben konnten. Doch vor drei Jahren änderte sich das. In Gerolzhofen wurde ein Stolperstein für Yaels Großmutter (Kathi Langstädter) verlegt. „Damals konnte ich nicht nach Deutschland kommen“, erzählt die alte Dame. Doch der Entschluss, dies nachzuholen, stand fest. Die Information, dass auch Ingelheim eine Reise wert sein könnte, bekam Yael durch Recherchen des Gerolzhofener Kulturforums, das auf der DIF-Homepage auf den Namen Bruno Langstädter gestoßen war. Damit schloss sich gewissermaßen ein Kreis.
Eine erste Begegnung gab es im Dezember 2018, als das Ehepaar Dürsch Yael Scharf in Israel besuchte. Sechs Monate später nun ist es Yael Scharf, die den Spuren ihres Vaters in Deutschland folgt. Es sind bewegende Momente für Yael und ihre beiden Töchter. Begleitet vom Ehepaar Dürsch sowie Lotan Sagi, dem stellvertretenden Vorsitzenden des DIF, suchen die Gäste aus Israel Erinnerungsorte auf. Sie machen einen Abstecher zum Alten Gymnasium, wo Bruno zur Schule ging, sie besichtigen den einstigen Wohnort der Familie Langstädter in der Stiegelgasse, an dem Stolpersteine verlegt sind. Die Besucherinnen zünden eine Kerze an und stellen sie neben die kleinen Messingplatten, die an Ludwig und Elisabeth Langstädter erinnern. An der Gedenkstele heißt Oberbürgermeister Ralf Claus die Gäste aus Israel willkommen. Anschließend macht sich die Gruppe auf den Weg zum jüdischen Friedhof in der Hugo-Loersch-Straße, auf dem Ludwig Langstädters erste Ehefrau Mathilde begraben ist.
Die erste Station an diesem Tag war die Ludwig-Langstädter-Straße, die nach Brunos Onkel benannt ist. An diesem Ort gab es für die Besucher eine schöne Überraschung. Im Jugend- und Kulturzentrum Yellow fand gerade ein deutsch-israelischer Jugendaustausch mit Schülern aus Afula statt. „Das war sehr aufregend“, sagt Yael Scharf und betont, wie wichtig sie so etwas findet. „So können die jungen Leute lernen, was man besser machen kann.“