Wenn die Menschheit alle ihre Konflikte innerhalb eines Spieles löst, könnte man „Spielende Götter“ dann nicht auch als utopischen Roman lesen? Die Themen, die im...
BINGEN. Wenn die Menschheit alle ihre Konflikte innerhalb eines Spieles löst, könnte man „Spielende Götter“ dann nicht auch als utopischen Roman lesen? Die Themen, die im Anschluss an Alessandra Reß’ Lesung bei Freundeskreis Park am Mäuseturm und Literarischem Salon Bingen im Tunneltheater diskutiert werden, sind nicht alltäglich, auch nicht für ihre eigenen Lesungen, wie die Autorin sagt: „So viele Fragen, das hatte ich auch noch nicht“. Das liegt daran, dass der Deutschkurs des Stefan-George-Gymnasiums von Daniela Prager, der die Lesung geschlossen besuchte, gerade das Thema Dystopien (Gegenbild zur positiven Utopie) im Unterricht durchgenommen hat. Nach eingehender Analyse unter anderem von „Brave New World“ und Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ begegnet man dystopischen Romanen anders.
Und Reß’ Werk, das die Autorin in Auszügen samt umfangreicher Einordnung in den Gesamtzusammenhang vorstellte, bietet reichlich Stoff zur Debatte. Die Schülerin Lucie wird gemobbt und plant ihren Gegenschlag mittels der virtuellen Realität Holus, in Reß’ Zukunftsvision nicht nur beliebtester Zeitvertreib der beiden höheren sozialen Schichten einer Dreiklassengesellschaft, sondern zunehmend ein Lebensersatz, worin Erfolg und Misserfolg ganz reale Auswirkungen auf das Leben außerhalb des Spieles haben. Die Frage, wie mit virtuellen Figuren, die sich ihrer Virtualität nicht bewusst sind, umgegangen werden soll, drängt sich ebenso auf wie die danach, was Realität letztlich eigentlich sei. Lucie erschrickt zunehmend vor sich selbst, als ihr klar wird, wie viele virtuelle Leben sie für eine kleine Rache unter Schülern bereits geopfert hat.
Überall hier setzen die Fragen der Schüler, der ganz realen im Tunneltheater, nun wiederum an. Fragen zur derzeitigen Verbreitung von vergleichbaren Online-Spielen. Spekulationen darüber, ob man ein Spielverhalten als Sucht bezeichnen könne, das doch alle betreiben. Und solche nach der dritten Klasse in Reß’ Welt, den vom Spiel ausgeschlossenen einfachen Arbeitern, und ob nicht in deren Unzufriedenheit die wahre Sprengkraft dieser Gesellschaftsform liege.
Autorin, Lehrerin Prager und Salon sind zufrieden mit dem Verlauf. Es sei ein Experiment gewesen, ausgerechnet eine Lesung für Jugendliche und junge Erwachsene anzubieten, denen doch gern geringe Affinität zu Literatur nachgesagt werde, teilt der Literarische Salon mit. Doch dank Kooperation mit der Schule und einer Autorin, die auch bereit ist, über ihr Werk zu diskutieren, sei das Experiment definitiv geglückt. Und dass man wegen Gewitter und Hagel zwischenzeitlich habe eng im Tunnel zusammenrücken müssen, sei der Atmosphäre nur zuträglich gewesen.
Weitere Kooperationen mit Schulen wolle man unbedingt ins Auge fassen, vielleicht bietet sich ja spätestens im kommenden Jahr zum 150. Geburtstag Stefan Georges dazu Gelegenheit.