Der Klimawandel macht’s möglich: Die Tourismus-Saison wird länger. Doch einige Monate lang Grau scheint Bingen im Winterschlaf zu liegen. Was hat die Stadt dann zu bieten?
BINGEN. Zugegeben, der Winter kann ziemlich trist sein. In Touristenorten besonders. Hotels schließen, Gastronomie oft auch. Touristenschiffe sind vertäut, Terrassenmöbel eingemottet. Die Zeit der Feuerwerke und Feste ist vorbei. Die sprichwörtlich „hochgeklappten Bürgersteige“, ja, sie sind auch im Binger Winter sichtbar. Fünf Monate tote Hose kann ein Trubel-Wochenende Weihnachtsmarkt nicht wettmachen. Die Nachricht vom Wegzug der Eisbahn macht den Winterausblick nicht besser. Also Rollladen runter und warten auf die nächste Saison? Es gibt Alternativen, der Weg aber ist schwierig. Manche Touristiker gewinnen dem Klimawandel eine positive Seite ab, weil die Schönwetterphase länger anhält beziehungsweise früher beginnt. Aber doch bleiben Monate, die pfiffige Ideen brauchen, wenn Gäste kommen sollen.
Das Leid am Rhein: Die Sommersaison muss genügen, um im Tourismus das Geld für zwölf Monate einzuspielen. Wer sich als Investor nur den Sommer am Binger Rheinufer ansieht, der gerät schnell in Euphorie – der Winter will jedoch mitgedacht werden. Und da hapert’s oft. Denn spätestens ab Ende Oktober ist Schluss mit Sonnenstrahl, Schifffahrt und seligem Ich-will-hier-gar-nicht-weg-Gefühl.
Wer mit Firmen-Seminaren und Weihnachtsfeiern die flaue Zeit überbrücken kann, zählt zu den Gewinnern. Was kann ich dem Gast bei Nebelgrau und Graupel in Bingen bieten? Warum soll er mit seinem Resturlaub ausgerechnet ans Rhein-Nahe-Eck reisen? Als Wintersportregion scheidet Bingen klimatechnisch aus. Und dass der Nebel selbst an sonnig gemeldeten Wintertagen gern bis nachmittags im Tal hängt, tja, das lässt sich auch nur schwer ändern. Welches Pfund haben die Binger also jenseits der Landschaft und was ließe sich im Winter daraus drehen?
Der Hildegard-Herbst wurde schon vor Jahren von der Kulturtouristik als Saison-Verlängerung erkannt. Er stockt aber bislang eher als Nischen-Produkt. Mehr Massentauglichkeit steht bereits auf der Agenda. Die Suche nach Spirit, das kann nämlich durchaus zugkräftig sein. Yoga-Urlaub anderswo auf der Welt ist beliebt, Sinnsuche und Chakra-Finden der Renner. Warum nicht bei den christlich-abendländischen Wurzeln anknüpfen, statt Nase rümpfen über Kommerz beim christlichen Retreat? Nebeltage sind wie gemacht für Einkehr, Besinnung, Neujustierung. Bingen als Kraftort fand schließlich unsere heilige Hildegard schon tragfähig.
Mal andersherum gefragt: Wohin fliehen denn die Binger für eine Auszeit vom Alltag? Das Spa in Fahrnähe ist beliebt. Hotelanlagen mit Wellness-Angebot wie im Stromberger Golfhotel oder neu Jordan’s Untermühle in Köngernheim schaffen das Angebot. Nicht ganz so exklusiv gibt’s Winter-Wellness in der Rheinwelle. Die Saunalandschaft dort gilt als Cashcow, als Goldesel. Die Binger Internet-Seite verweist konsequent erholungsreife Gäste für Sauna und Massage ins Hospital. Freizeit im Krankenhaus will niemand, sorry!
Wer alle Spa-Hoffnungen auf die Hotel-Macher von „Papa Rhein“ setzt, darf kein Bad Sobernheim II am Ufer erwarten. Das neue Hotel schreibt Kunst, Kultur, Geschichte und Outdoor-Action in sein Livestyle-Programm. Ein „Plungepool“ auf der Dachterrasse und ein Spa-Bereich stehen im Prospekt. „Urban“ werde das Konzept. Wellness und Fitness sind jedoch ohne Frage Winterthemen. Übrigens auch für Kaufhaus-Zonen.
Zwar ist Bingen nicht New York, aber Spicken bei den ganz Großen der Shoppingszene sei als Gedankenspiel einmal erlaubt. Saks Fifth Avenue räumt schon mal eine Etage für „The Wellery“ frei. Fitnesskurse wurden hier über Monate veranstaltet und künstliche Salzräume zur Entspannung eingerichtet. Harrod’s in London schuf neben Konsumrausch-Angeboten auf Etage vier eine „Wellness Clinic“ mit 14 Behandlungsräumen. Alles zielt auf ein junges, schickes und zahlungskräftiges Publikum.
Erlebnis kann auch im Digitalzeitalter funktionieren. Das zeigen gute Ansätze: Wenn sich im Vintage-Laden ein Schreiner-Kurs oder Bastel-Seminar mit Omas Teeservice anschließt. Wenn Bands zum Wohnzimmerkonzert in der Alten Wache, in der Vinothek oder im urigen Martinskeller aufspielen. Wenn der Woll-Laden zum gemeinsamen Stricken einlädt oder das Kikubi-Kino für das Bier danach die Kooperation mit der Gastronomie sucht. Das alles passt blendend in den Winter.
Nachts geht wenig. Großstädter rümpfen gern über mangelndes Club-Leben bei uns Landeiern die Nase. Man kann im Sommer gegenhalten: Die Kerb ist unser Club! Im Winter wird die Sektbar zur After-Sitzung an Fastnacht gestürmt. Irgendwie muss man sich die flaue Saison ja schönreden. Denn mit Ausgeh-Angeboten nach der Touristensaison sieht es flau aus. Wir reden mal nicht von Charity-Bällen in Abendrobe. Für die größte Binger Veranstaltungshalle, das Kongresszentrum, soll der neue Touristikchef ja künftig die Werbetrommel rühren und Veranstaltungen an Land ziehen. Sein Blick nach Ingelheim wirkt einschüchternd. Denn die Nachbarn geben mit ihrem kING-Programm seit der Öffnung mächtig Gas.
Also zurück zum Anfang: Was kann Bingen auch im Winter bieten? Definitiv ist Wein im Winter ein starkes Thema. Die Weinsafari in Büdesheim ist da ein exzellenter Ansatz. Die Zielgruppe ist jung, das Essen zwar nicht gourmettauglich, aber das winterliche Hof-Hopping kommt ohne Bustransfer aus und zeigt breite Vielfalt innerhalb eines Stadtteils. Klar ausbaufähig. Bis zur zweiten Auflage am 29. März ist der Winter allerdings noch lang. Vorher ist Fastnacht. Vielleicht ließe sich mit Frohsinn touristisch mehr punkten?