Ferienwohnungen boomen in Bingen

Das Weingut Dessoy mit seinen Ferienwohnungen inmitten der Kempter Weinberge. Fotos: Christine Tscherner
© Fotos: Christine Tscherner

Das Angebot reicht vom schicken Domizil bis zum günstigen Souterrain. Die Stadt freut’s, denn die Betten sind nötig, wenn Bingen nicht nur Tagesausflugsziel sein will.

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KEMPTEN. W

er bei uns bucht, will die Region entdecken.“ Frederike Dessoy, 26, ist Jungwinzerin mit 16 Hektar Rebland und gleichzeitig Zimmerwirtin. Zwei schicke Ferienwohnungen mitten in den Weinbergen bietet ihre Kempter Familie an. Echtholz-Böden, Bäder mit Weitblick auf Rebzeilen und Schreinermöbel zielen nicht auf Sparkundschaft. „Jüngere Paare mit Kind, Radurlauber und Weinkunden“, so beschreibt sie die Klientel seit dem Start 2016.

Das Weingut Dessoy mit seinen Ferienwohnungen inmitten der Kempter Weinberge. Fotos: Christine Tscherner
Frederike Dessoy in einer der beiden, erst zwei Jahre alten Ferienwohnungen.

Mit den Herbstferien geht die touristische Saison am Rhein in den Endspurt. Schließlich locken oft wärmere Temperaturen als anderswo in Deutschland. Weinerlebnis pur während der Lese, ein immer dichteres Netz an Rad- und Wanderwegen sowie das sagenhafte Mittelrheintal mit Burgen zwischen bunt leuchtenden Herbstwäldern sind echte Argumente. Ab vier Nächten lassen sich die 80-Quadratmeter-Wohnungen „Rotwein“ und „Weißwein“ in den Kempter Weinbergen buchen. Das Geschäft läuft meist als verlängertes Wochenende. Und es läuft richtig gut. Die Saison startet im April und endet im September, spätestens Oktober.

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Wer hinschaut, sieht: Der Urlaubsmarkt ist im Umbruch. Die ehemalige Arztpraxis an der Winfriedstraße ist frisch zur Ferienwohnung umgebaut. „Superhost“ Stefan punktet an der Mainzer Straße mit Apple-Geräten und Boxspringbetten. Traumblick versprechen Wohnungen in Bingerbrück. Ferienwohnungen entstehen eben nicht nur in Berlin und München. Eine ganze Gründerzeit-Etage ist in Laufnähe zur Innenstadt im Angebot, Feriendomizile mit Pool und Sauna, aber ehrlicherweise auch viele Souterrains für den schmalen Geldbeutel. Manche Bilder im Netz erinnern an das Jugendzimmer des ausgezogenen Sohnes. Oder Omas Resopalmöbel kommen noch einmal unter dem Wachstischtuch zum Einsatz. Dann punkten der niedrige Preis oder vielleicht die extrem guten Gastgeber-Qualitäten.

Fakt ist: Ferienwohnungen boomen in Bingen. Internetforen als Mittler zwischen Gast und Vermieter befeuern den Trend. Der Kontakt ist simpler denn je. Oft gibt’s Geheimtipps vom Vermieter gratis. Brötchenservice, Bikes oder Shuttle zum Weinfest sind manchmal auch inklusive.

„Wir sind eine klassische Wochen-end-Destination, da sind Ferienwohnungen nicht der größte Markt“, schränkt Christian Halbig, Geschäftsführer der Rheinhessen-Touristik, ein. Wer nur für eine Nacht eine Unterkunft sucht, bleibe klassisch bei Hotels und Pensionen.

Aber mit dem Höhenflug von Airbnb, booking.com oder fewo-direkt sei das Privatgeschäft weltweit spürbar angekurbelt worden. Fast schon ein Selbstläufer sind Urlaubsangebote auf Weingütern. Die Kombination aus Weinprobe und Übernachtung wirkt schlüssig.

80 Binger bieten inzwischen Betten, Bad und Küchenzeile für Individualtouristen. „Davon vermarkten wir 42 Ferienwohnungen über das städtische Unterkunftsverzeichnis sowie eine kommunale Plattform“, zählt Georg Sahnen zusammen. Der Chef der Binger Tourist-Information unterstreicht: „Jedes private Angebot, das Gäste nach Bingen bringt, ist uns willkommen.“ Vor zehn Jahren waren in Bingen nur rund halb so viele Ferienwohnungen zu haben. „Eine Konkurrenz zum normalen Wohnungsmarkt sehe ich aber nicht“, sagt Sahnen. Seine Kollegen in Rüdesheim machen in der Umwidmung von Wohnraum bereits ein Problem aus.

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Ob ein Sterne-System für den Gast als Orientierung zwingend ist? „Uns geht es um die Qualität der Unterkünfte, weil sie die Qualität der gesamten Destination ablesbar machen“, so der Touristik-Chef. Formale Zertifikate seien hierfür weniger entscheidend. Der Auftritt der Anbieter im Internet, Kommentare und Bewertungen dort, sie bieten deutliche Entscheidungshilfen für den Gast. Sehr genau wählt der Tourist nämlich aus: Sind mir Föhn oder Tablet als Interieur wichtig, die Bushaltestelle vor der Tür oder Ruhe-Garantie, ein breites Küchen-Equipment oder reicht eine Liste mit Tipps zum Essengehen? Das entscheidet jeder Urlauber nach Gusto und kein Punktesystem.

„Demnächst setzen wir uns mit den Binger Hoteliers zusammen“, kündigt Sahnen an. Ein Gespräch mit Betreibern von Ferienwohnungen sei im Anschluss denkbar. „Wie präsentiere ich mich im Netz? Welche Vermarktungswege gehen wir gemeinsam?“ Sahnen nennt seine Kernfragen.

Bingen braucht Betten. Ohne mehr gute Unterkünfte keine Entwicklung der Urlaubsdestination. Immer nur Tagesausflugsziel sein, nein, da geht mehr. Oberbürgermeister Thomas Feser (CDU) schielt deshalb nicht nur auf den längst angekündigten Bolland-Baustart. Seit dem 14. September liegt die Baugenehmigung für „Papa Rhein“ vor.

Auch die stetig steigende Zahl von Wohnmobilurlaubern und Ferienwohnungen hat der Stadtchef im Blick. „Wer eine Ferienwohnung bucht, plant eine längere Verweildauer als der Hotelgast“, weiß Sahnen. Genau an diesem längeren Aufenthalt will Bingen ansetzen. Hier ist der Hebel.

Ob Gaulsheim oder Kempten, Sponsheim, Dromersheim oder rund um den Rochusberg: Binger Ferienwohnungen sind während der Saison richtig gefragt. Am „Bingen swingt“-Wochenende oder zum Winzerfest gehen bereits Monate vorab die Anfragen bei Vermietern ein.

Das Geschäft ernährt jedoch keine Familien, bleibt immer nur Zubrot. Denn: Der Winter ist tot. Allein die Jugendherberge in Bingerbrück scheint mit vielfältigem Familienprogramm und Tagungsräumen ein Rezept gegen leere Betten gefunden zu haben. Graues Winterwetter bietet Zeit für Theaterproben, Weiterbildung, Schulungen und Kreativ-Programm.

Zimmerwirtin Dessoy hat den Schritt ins Vermietungsgeschäft bislang nicht bereut. „Unsere eigene Urlaubserfahrung bei einem Apfelbauern legte den Grundstein.“ Die Rechnung aus Investitionssumme und Mieteinnahmen macht sie nicht auf. „Ferien auf dem Winzerhof gehört einfach zu unserem Konzept als Weingut.“ Eine Region aus der Gastfamilie heraus zu erleben, das biete kein Hotel. Nachteile? „Klar, es muss immer jemand als Ansprechpartner vor Ort sein“, sagt sie. Aber das Weingut fordert ohnehin Präsenz.

Jeder Gast wird einen Tag vor Anreise noch einmal angeschrieben und damit die Vorfreude auf den Bingen-Urlaub geweckt. Was die Jungwinzerin ihren Gästen empfiehlt? „Das Ringticket mit Schiff, Seilbahn und Wanderung ist Pflichtprogramm und alle sind bislang total begeistert zurückgekommen.“ Sternförmig die Region auf dem Radsattel erkunden, das stehe hoch im Kurs. Wandern an Rheinhängen schätzt der Gast ebenso wie Ausflüge nach Frankfurt, Wiesbaden und ins nahe Mainz. Schlechtwettertage lassen sich mit dem Museum am Strom oder der Rheinwelle gut überbrücken. Den Lieblingswein inmitten der Reblandschaft entdecken, das lockt in Deutschlands größtes Anbaugebiet. Der Ball muss gespielt werden. Goldener Herbst ist dafür doch wirklich die ideale Jahreszeit ...