Man kann sich der deutschen Geschichte der letzten 100 Jahre auf verschiedene Art nähern. Zwei Historikerinnen zeigen, welche Gefühle zu welchen Ereignissen passen.
BINGEN. Geschichte in 20 Gefühlslagen: Die Ausstellung der Historikerinnen Ute und Bettina Frevert wagt einen Versuch. Statt chronologisch durchkämmten sie 100 Jahre deutsche Geschichte nach Emotionen. Zu sehen ist das Ergebnis der Berlinerinnen bis Ende Juli im Treppenhaus der VHS-Zentrale am Freidhof.
Ekel, Empörung, Empathie – Gefühle hat jeder. Damit können alle etwas anfangen. Fern jeder Rationalität sind auch geschichtliche Ereignisse mit Emotion besetzt. „Begeisterung“ löste die Nationalelf 1954 bei der Fußball-WM aus. Heutzutage kaum nachvollziehbar euphorisch feierten die Nationalsozialisten ihren „Führer“ auf Massenveranstaltungen.
Der Fall der Mauer 1989 und ein Foto vom Rock am Ring-Festival 2014 stehen ebenfalls auf dem Gefühlsplakat „Begeisterung“, während ein paar Treppenstufen weiter „Angst“ prangt: Angst vor Armut und Arbeitsplatzverlust, Angst vor Einwanderung, vor Geldentwertung wie 1923, lähmende Angst wie vor Verfolgung im Dritten Reich.
Die Autorinnen griffen für jede Emotion ein großes Titelbild heraus, und zwar aus der Gegenwart sowie sechs historische Bilder in kleinerer Aufmachung darunter. „Hass“ versammelt so die Schleyer-Entführung der RAF neben einem antisemitischen Bilderbuch von 1936, der „Neid“ vereint die Doku-Soap „Die Geissens“ mit der Ausstellung „Der ewige Jude“ von 1937. So ergibt sich eine ziemlich bunte Ansammlung unterschiedlichster Ereignisse nebeneinander, verbunden durch die Gefühlslage und Stimmungen als Bezugspunkt.
Die Ausstellung „Macht der Gefühle. Deutschland 19/19“ setzt emotionsgeschichtlich an. Wer Zeitstränge und Zusammenhänge für Geschichtswissen braucht, würde sich zu den 140 historischen Fotos mehr Erklärtext wünschen. Aber gut, die Idee will Zugang über Emotion statt ellenlangen Lesestoff. Und ein Treppenhaus ist eben kein Museum mit Aufenthaltsqualität.
VHS-Leiter René Nohr griff beim Angebot der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu. „Seit ein paar Jahren habe ich die Reihe zur politischen Bildung abonniert.“ Insbesondere im Jahr zahlreicher Jubiläen soll die Ausstellung anregen, sich mit Demokratie und Diktatur zu beschäftigen: 100 Jahre Gründung der Weimarer Republik, 80 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs, 70 Jahre doppelte deutsche Staatsgründung oder Bonner Regierungswechsel vor 50 Jahren.
„Und 100 Jahre Volkshochschulen kommen noch dazu“, setzt Nohr die Reihe fort. Politische Bildung stand in den Startjahren übrigens ganz oben auf der VHS-Liste, auch in Bingen. Mit Gründungsdatum 1946 reicht die Weiterbildungseinrichtung der Stadt noch nicht ganz an das runde Jubiläum heran.
Aber sie gehört zu den über 2000 Orten bundesweit, an denen die Schau „Macht der Gefühle“ zu sehen ist. Die Plakate sind kostenfrei bis zum 31. Juli im Treppenhaus des VHS-Gebäudes am Freidhof zugänglich.