Lich: Bruder eines Opfers des Hanau-Attentats berichtet

Çetin Gültekin, Bruder des Opfers Gökhan Gültekin, legt seine Hand auf das Porträt seines Bruders. Ein Gemälde unter der Frankfurter Friedensbrücke zeigt die Por-träts von neun Opfern der Anschläge in Hanau.   Archivfoto: dpa

Bei einer Online-Veranstaltung des Kreisausländerbeirats und des Forums für Völkerverständigung war der Bruder eines der Opfer des Terroranschlags von Hanau zu Gast.

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LICH. Tiefe Einblicke in die Seele eines Betroffenen des Terroranschlags von Hanau bot am Sonntagabend eine Veranstaltung des Kreisausländerbeirats und des Forums für Völkerverständigung. Im Rahmen der Licher Veranstaltungsreihe zur Reichspogromnacht am 9. November 1938 war Çetin Gültekin, der Bruder eines der Ermordeten, eingeladen worden. Er berichtete über seine Erfahrungen, die Veränderungen in seinem Leben durch die Tat, die Situation seiner Familie und die Reaktionen der Gesellschaft.

Corona-bedingt lief alles online ab, 15 Zuschauer saßen zu Hause vor den Monitoren, während Tim und Simone van Slobbe mit Çetin Gültekin in dessen Wohnung über das Attentat sprachen. Fast zehn Monate ist es her.

Am 19. Februar erschoss der 43-jährige Tobias R. in einer Shisha-Bar in der Hanauer Innenstadt drei Menschen, tötete anschließend in einer zweiten Bar in der Stadt sechs weitere Menschen, bevor er zu Hause seine Mutter und zum Schluss sich selbst erschoss. Alle neun Opfer aus den Bars hatten einen Migrationshintergrund. Die Waffen für die Morde hatte R. legal bezogen, da er als Mitglied eines Frankfurter Schützenvereins einen Waffenschein besaß. Noch 2019 wurde seine Zuverlässigkeit als Sportschütze überprüft, er galt als ruhiger, verträglicher Mensch.

Vor dieser unfassbaren Tat war der 43-Jährige nicht durch Straftaten in Erscheinung getreten, hatte aber kurz vor dem Anschlag ein Bekennerschreiben mit Verschwörungstheorien und zutiefst rassistischen Hasstiraden ins Internet gestellt und im November 2019 einen Brief mit rechtsextremen Ansichten an die Hanauer Staatsanwaltschaft geschickt. Diesen Warnsignalen wurde aber von den Behörden nicht nachgegangen. Als Auslöser der Tat wird auch eine akute psychische Erkrankung diskutiert.

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"Wie Don Quichotte"

Eines der Opfer war der 38-jährige Gökhan Gültekin, ein gelernter Maurer, der nebenberuflich als Kellner arbeitete. Die Familie stammt aus Agri im äußersten Osten der Türkei und lebt seit 1968 in Hanau. Sein Bruder, der Schreiner Çetin Gültekin (46) stellte als Erstes klar: "Ich will kein Mitgefühl, ich kämpfe für Gerechtigkeit. Alle Leute, die in den Fall verwickelt waren und Fehler gemacht haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Mir geht es heute viel schlechter als direkt nach der Tat, da nichts passiert und ich gegen Windmühlenflügel kämpfe wie Don Quichotte."

Für Familie Gültekin verstärkte sich die Tragödie dadurch, dass der krebskranke Vater das emotionale Tief nicht ertrug und wenige Wochen nach der Tat verstarb. Die Mutter hielt es in der Wohnung mit Blick auf die Bar, in der ihr Sohn verblutete, nicht mehr aus. "Keiner hat uns bei der Wohnungssuche geholfen. Wir haben in Eigeninitiative eine Wohnung gefunden, die aber fast doppelt so teuer ist", klagte Gültekin. "Ich bin psychisch so angegriffen, dass ich nicht arbeiten kann, das Krankengeld reicht hinten und vorne nicht".

Um Erinnerungen abzuschütteln, wurde die neue Wohnung mit neuem Interieur ausgestattet und da sind auch noch die Überführungskosten der Leichen in die Türkei und die Beerdigungskosten. Es gab keine Kur oder Trauma-Behandlung und auch keine nennenswerte finanzielle Entschädigung für die Angehörigen der Opfer. "Wir haben uns total allein gelassen gefühlt. Wir wurden jeden Tag erneut zu Opfern", resümierte Gültekin.

Die Angehörigen hätten erst acht Stunden nach der Tat erfahren, dass ihre Familienmitglieder zu den Opfern gehören. Sechs Tage habe man wegen einer nicht angekündigten Autopsie nicht gewusst, wo die Leichen sind. Gültekin klagt die Behörden an: Wieso wurde der Täter nach seinem Hass-Video im Internet nicht kontrolliert? Wieso wurde das Hass-Schreiben an die Staatsanwaltschaft nicht ernst genommen? Wieso bekommen die Opfer keine Entschädigung und soziale Unterstützung von der Gesellschaft? Wäre die Tat zu verhindern gewesen, wenn rechtzeitig eingegriffen worden wäre? Fragen über Fragen, die an dem 46-Jährigen nagen.

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Erschwerend kommt hinzu, dass der Täter sich selbst gerichtet hat, es wird keine Gerichtsverhandlung und keine Strafe geben. Gültekin befürchtet, dass alles klammheimlich in einer Schublade verschwindet. Deshalb haben die Opferfamilien Anwälte beauftragt. "Ich habe Angst um meinen Sohn, wenn noch mal so etwas passiert. Deutschland muss konsequenter gegen Nazis und Rechtsradikale vorgehen. Waffenbesitz muss strenger kontrolliert werden. Und die Opfer brauchen mehr soziale Unterstützung, die Gesellschaft hat da eine Bringschuld", forderte Gültekin zum Schluss und beklagte: "In Deutschland schämt man sich als Opfer und wird sich selbst überlassen."