Gerlinde Graf ist mehr als einmal dabei, als ein Mann neben ihr zusammenbricht. Und nach wie vor fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen. Eines Abends sitzt sie mit einem...
WINDESHEIM. Gerlinde Graf ist mehr als einmal dabei, als ein Mann neben ihr zusammenbricht. Und nach wie vor fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen. Eines Abends sitzt sie mit einem Afghanen im Fernsehraum, Nachrichten laufen, Bilder aus seiner weit entfernten Heimat. Bombenanschlag, viele Tote, Chaos. Gerlinde Graf spürt, dass sich plötzlich etwas verändert. Wie der Mann neben ihr immer weiter in sich zusammenfällt. „In den Nachrichten waren tote Kinder zu sehen, eines davon war seines“, erzählt Graf und fixiert ihr Gegenüber mit großen, traurigen Augen.
Bildergalerie
Seit zwei Jahren gibt es die Notunterkunft für Geflüchtete in Windesheim, zwei Jahre voller Engagement, voller Geschichten. Positiv wie negativ. Jetzt wird das Haus geschlossen, leergewohnt, wie es im Beamtendeutsch heißt. Bis zum Ende der Woche sollen die letzten fünf Bewohner das ehemalige Schulgebäude verlassen und eigene Wohnungen beziehen. Ein emotionaler Abschied für alle Beteiligten, vor allem aber für Gerlinde Graf, Leiterin der Unterkunft, und ihr Team.
Ende 2015, die Flüchtlingswelle ist in Deutschland auf ihrem Höhepunkt. Täglich fährt vor der Bad Kreuznacher Kreisverwaltung ein Bus vor, manchmal sogar zwei. 50 neue Geflüchtete an Bord aus Syrien, Afghanistan, Somalia. Der Erste Kreisbeigeordnete Hans-Dirk Nies sagt: „Auch wenn es unmenschlich klingt: Wir mussten schnellstmöglich diese Flut abpuffern.“ Die Lösung: Notunterkünfte. Neben Altenbamberg zieht der Kreis in Windesheim binnen weniger Wochen mit dem Deutschen Roten Kreuz, dem Arbeiter-Samariter-Bund und der Caritas ein Bettenlager hoch. Auf 50 Personen ist es ausgelegt, 70 wohnen in der Spitze hier. Nies: „Jeden Freitag haben wir zurückgeguckt und gesagt: Wieder eine Woche geschafft.“ Eine harte Zeit, 1280 Flüchtlinge hat der Landkreis seit 2015 aufgenommen und verteilt.
Über ein Jahr lang Ausnahmezustand
298 Menschen sind nach Windesheim gekommen. Bis zu acht Betten stehen in einem Klassenraum, ein grauer, abschließbarer Spind daneben, an den Wänden hängen noch Schultafeln aus früheren Tagen. Mit Tüchern und Vorhängen verschaffen sich die Menschen Privatsphäre. Geduscht wird in Containern auf dem Pausenhof, Küche, Gruppenraum, Nähraum sind ebenfalls ausgelagert. Bis zu 40 Ehrenamtliche halten den Betrieb am Laufen, zwölf Hauptamtliche sind rund um die Uhr da. Thomas Decker, Geschäftsführer des DRK-Kreisverbandes, sagt: „Wir waren für die Situation anfangs völlig unterbesetzt. Jeder, der wollte, wurde eingestellt, keine Ausschreibung, kein Vorstellungsgespräch.“ Ausnahmezustand, über ein Jahr lang.
Vielleicht ist für die Mitarbeiter und Bewohner Windesheim auch deshalb mehr als nur ein Bettenlager gewesen, sagt Gerlinde Graf. Ein Notstand, der zusammenschweißt. 16 Nationalitäten haben hier gewohnt, 68 Familien, 157 alleinreisende Männer, 12 alleinreisende Frauen. Drei Geburten hat es gegeben – und einen Todesfall, ein Mann aus Georgien, Krebs. Sein letzter Wunsch: einmal in einer Disco feiern. Bis vier Uhr morgens zieht er mit seinen Mitbewohnern durchs Nachtleben. Am nächsten Tag fliegt er heim zu seiner Mutter, tags darauf stirbt er.
Nach Vergewaltigung droht die Stimmung zu kippen
In einer Notunterkunft herrscht ein stetiges Kommen und Gehen. Nur Gerlinde Graf und ihr Team, die sind geblieben. Mit jedem Neuankömmling beginnt ihre Arbeit von vorn. Wie trenne ich Müll? Wie benutze ich eine westliche Toilette? Das Team übersetzt Formulare, begleitet die Geflüchteten zu Ämtern und Ärzten. Kranke Menschen werden in einem eigenen Raum betreut. Hepatitis, Krätze, Windpocken. Ein Extra-Schlafraum steht nur für Frauen zur Verfügung, abgeschlossen werden darf er nicht, Brandschutzmaßnahmen. Einmal die Stunde patrouilliert ein Hauptamtlicher, es herrscht Alkoholverbot. Spinde werden kontrolliert.
Auf einem Stück Brachland des Schulgeländes legen die Helfer mit den Geflüchteten Gemüse- und Blumenbeete an. Zucchini, Kürbisse, Kohlrabi, Tomaten. Die Erwachsenen haben etwas zu tun, die Kinder toben dazwischen.
Aber: Treffen viele verschiedene Kulturen aufeinander, traumatisierte Menschen, sind Tragödien schwer zu vermeiden. Zweiter Monat nach der Eröffnung, ein junges Mädchen aus dem Dorf wird von einem Somalier vergewaltigt, der Täter taucht unter. Das Mädchen geht seitdem in psychologische Behandlung. Proteste gegen die Einrichtung werden laut, die Stimmung droht zu kippen. Gerlinde Graf sagt: „Wir haben daraus Lehren gezogen: Nie durften Kinder alleine in Räumen bleiben und der Nachwuchs aus dem Dorf sich nur im Foyer aufhalten.“ Ein Sicherheitsdienst wird eingestellt, schiebt Wache. Und trotz des tragischen Vorfalls: Windesheim steht hinter dem Projekt, gibt Deutschunterricht, hilft, wo es kann, beteuert Gerlinde Graf.
Seit März 2017 flaut der Zustrom allmählich ab. Zurzeit kommen monatlich nur noch rund 30 Geflüchtete im Landkreis an. Eine Notunterkunft braucht es nicht mehr – doch trotz der Schließung soll sie erhalten bleiben. Nies sagt: „Für den Fall, dass noch einmal eine Welle kommt, was wir nicht hoffen, wollen wir gewappnet sein.“ Betten, Waschmaschinen, Spinde, Geschirr, all das bleibe im alten Schulgebäude – laufende Kosten entstünden dadurch nicht.
Nur Gerlinde Graf und ihr Team, die sind beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr dabei. Ihre Zeitverträge laufen aus, trotzdem will die Hausleiterin die Zeit in der Notunterkunft nicht missen: „Wir haben hier geweint, gelacht, wir haben gearbeitet und viele Freunde gewonnen“, erzählt Graf und fixiert ihr Gegenüber mit großen, strahlenden Augen.